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Unrühmliche Vergangenheit der Stadtgeschichte belastet noch heute / Vortrag im Hanseat über Konzentrationslager Leiden und Grauen hatten eine feste Adresse

Von Oliver Becker 29.01.2013, 01:17

Bedrücktes Schweigen am Sonntag im Salzwedeler Hanseat. Am Gedenktag für die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz war dort ein Vortrag über Lager vor den Toren der Stadt Salzwedel zu hören. Die Besucher waren erschüttert.

Salzwedel l In Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27.Januar 1945 wurde dieser Tag, auf Initiative des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Am Sonntag gedachten die Menschen in Salzwedel mit zwei Veranstaltungen am Mahnmal an der Ritzer Brücke und am Gedenkstein an der Gardelegener Straße der Opfer des Nazi-Terrors. Im Rahmen des Gedenkens hielten die Diplom-Pädagogin Karin Heddinga und die Historikerin Ulrike Jensen am frühen Abend im Hanseat einen Vortrag mit dem Titel "Da war keine Ähnlichkeit zu unserem alten Selbst - Die spezifische Situation weiblicher KZ-Häftlinge".

Beide Referentinnen wirken in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, südöstlich von Hamburg, und waren auf Einladung des Vereines "Miteinander" nach Salzwedel gekommen. Vereinsmitglied Martin Wesseli moderierte die Veranstaltung.

1520 Frauen im KZ vor den Toren Salzwedels

Das Konzentrationslager (KZ) Neuengamme wurde 1938 zunächst als Außenlager des KZ Sachsenhausen errichtet und war ab 1940 ein selbstständiges KZ mit 86 Außenlagern. Eines davon befand sich unmittelbar vor den Salzwedeler Toren und wurde im Sommer 1944 eingerichtet.

Dieses war ein reines Frauenlager mit 1520 jüdischen Insassen aus Ungarn, Griechenland und Polen. Die Frauen waren in drei Transporten aus Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen Ende Juli/Anfang August, im Oktober und im Dezember 1944 nach Salzwedel gebracht worden.

In Zwölf-Stunden-Schichten schufteten die Frauen unter unmenschlichen Bedingungen für die "Draht- und Metallfabrik Salzwedel", zugehörig den Polte-Werken in Magdeburg. Produziert wurde dort und in Salzwedel Infanterie- und Flakmunition für das Heer. Für die Frauen, Männer und Kinder war die Inhaftierung in ein KZ ein unbeschreibliches Martyrium, das oft mit dem Tod endete.

Immer wieder verlasen die Referentinnen aufgeschriebene oder mündlich übermittelte Erinnerungen der betroffenen Frauen. Während bei den Männern die reine Arbeitskraft über die Weiterverwendung entschied, spielten bei den Frauen auch das Aussehen und die Figur mit ein. Für Frauen mit Kindern oder in Schwangerschaft bedeutete die Selektion oft den Tod. Der Gipfel der Perversion war ab 1942 die Einrichtung von Lagerbordellen in allen großen NS-KZ. Lagerinsassinnen wurden mit Versprechungen angeworben, die gutes Essen, gute Kleidung, ein eigenes Zimmer und nach einer halbjährigen Dienstverrichtung die Entlassung in Aussicht stellten. Die ersten drei Zusagen wurden eingehalten, die letzte dagegen nie. Für die Frauen hieß es, an einem Abend sechs bis acht Männern gefügig zu sein und sich einer anschließenden Spülung mit Milchsäure zu unterziehen, um so Schwangerschaften vorzubeugen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Lagerbordelle tabuisiert. Beide deutsche Staaten verweigerten den Frauen die Anerkennung ihres Opferstatus, und noch bis in die 1990er Jahre erhielten sie keine Entschädigung.

Von Überlebensstrategien und dem Zusammenhalt

Welche Überlebensstrategien entwickelten die Frauen, um die Zeit in einem KZ zu überstehen? Gegenüber Männern, die oft umverlegt wurden und so kein soziales Gefüge aufbauen konnten, wurden die Frauen seltener getrennt und lebten über einen längeren Zeitraum in Gruppen zusammen und fanden Zusammenhalt als sogenannte Lagerschwestern. Diese Bindung währte über die Inhaftierung hinaus. Den Frauen war es wichtig, ihre Weiblichkeit zu erhalten. Sie versuchten, dieses zu erreichen, indem sie sich pflegten, soweit es ihnen möglich war, erzählte Karin Hiddenga.

Das Martyrium, welches mit der Befreiung endete, wollten viele nicht wahrhaben oder sie wussten nicht wohin. "An dem Tag, an dem ich befreit wurde, habe ich erkannt, dass ich keine Heimat mehr habe", zitierte Karin Heddinga eine ehemalige Inhaftierte.

Das Salzwedeler Außenlager von Neuengamme erhielt im April 1945 noch einmal Zugang aus Porta Westfalica und Fallersleben. Die Insassenstärke betrug danach über 3000 Menschen. Als einziges Außenlager des KZ Neuengamme wurde Salzwedel nicht geräumt. Am 14. April befreiten Angehörige der 9. US-Armee die Salzwedeler Häftlinge.

Bedrückendes Schweigen im vollbesetzten Veranstaltungsraum des Hanseats nach diesen abschließenden Worten der Referentinnen. Das Wissen, dass das Grauen so nah war, belastet.