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Mauertote Der Tod kam von hinten

Die Todesopfer des DDR-Regimes auf dem Gebiet der ehemaligen Landesgrenze sind in einer Ausstellung in Salzwedel nachvollziehbar.

Von Alexander Rekow 07.03.2020, 02:00

Salzwedel l Es war der 13. Januar 1959, als Karl Korte mit einem Möbeltransporter der Möbelfabrik Salzwedel unterwegs war. Doch der 26-Jährige sollte an diesem Tag nicht zu seiner Familie zurückkehren. Denn was Karl Korte nicht wusste: An diesem Dienstag gab es auf Anordnung verstärkte Kontrollen im Grenzbereich. Karl Korte winkte noch freundlich in Richtung der Grenzpolizisten. Doch denen war nicht nach Winken zumute. Beim dritten Sicherungsposten wurde dem 26-Jährigen direkt in den Kopf geschossen. Karl Korte starb. Die SED-Kreisleitung schrieb dazu, „daß die Grenzpolizisten nach den Befehlen und Anweisungen zu recht gehandelt haben“. Denn „wer die Deutsche Grenzpolizei oder Volkspolizei nicht als Organ unserer Arbeiter- und Bauern-Macht respektiert, kann kein anderes Ergebnis erwarten“.

Es sind die Geschichten, wie die von Karl Korte, die die mörderischen Taten des DDR-Regimes schonungslos widerspiegeln. Ein Staat, der die Waffen gegen das eigene Volk richtete. Ein Staat, der mit einer 1367 Kilometer langen, innerdeutschen Grenze Familien zerstörte, Mütter zu Witwen und Kinder zu Waisen machte. Ein Staat, der seine Bürger mit 55 000 Selbstschussanlagen, mit Minen, 1280 Kilometern Metalgitterzaun; mit Soldaten und 3000 auf Menschen abgerichteten Hunden an der Freiheit hinderte. Und „ein Staat, der auf seine Bürger schießen lässt, ist ein Unrechtsstaat!“, brachte es Birgitt Neumann-Becker, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, auf den Punkt.

Sie war nach Salzwedel in die ehemalige Grenzregion gekommen, um die Zahlen offenzulegen. Die der Toten, die des DDR-Regimes. Schonungslos und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Damit traf sie den Nerv der Salzwedeler, die zahlreich erschienen waren, um mehr über die Opfer zu erfahren und ihr eigenes Wissen einzubringen. Denn wer in der Region lebte, lebte ungewollt auch an und mit der Grenze.

Wie beispielsweise Georg Fleischer. Der 29-Jährige wurde im heutigen Salzwedeler Ortsteil Mahlsdorf geboren. Georg Fleischer war Oberleutnant, also selbst im Militärdienst der DDR. Vor seiner Ermordung sollte ihn das trotzdem nicht bewahren. Sein Schicksal: Er erschien am 27. März 1962 nicht zum Dienst. Das DDR-Regime vermutete sofort, dass Georg Fleischer sich absetzen könnte. Alarm wurde ausgelöst. Doch der 29-Jährige wollte die DDR nicht verlassen, er kam schlichtweg einen Tag zu spät zum Dienst. Die Tagesparole konnte er daher nicht kennen. Georg Fleischer wusste wohl, was ihm blühte, als er von den Grenztruppen angesprochen wurde und eröffnete mit seiner Dienstpistole das Feuer. Im Kugelhagel brach der 29-Jährige zusammen und verstarb an Ort und Stelle.

Ein ebenfalls tödliches Schicksal ereilte neben Karl Korte und Georg Fleischer noch weitere Salzwedeler. Zum Beispiel Bernhard Simon, der am 28. Oktober 1963 an den Folgen einer Minenverletzung bei Ziesau starb. Oder Ernst Wolter. Er trat bei Riebau auf eine Erdmine und verblutete. Hans-Friedrich Franks Leben wurde am 17. Januar 1973 beendet, ebenfalls durch eine Minenexplosion.

Und Alfred Görtzen hielt es nicht mehr aus und er nahm sich am 17. Januar 1973 selbst das Leben.

Kopfschütteln und Fassungslosigkeit unter den Besuchern in Salzwedel, als die Landes-Beauftragte die Geschichten der Opfer erzählt. Eine Frau holt ein Taschentuch aus der Handtasche, um ihre Tränen zu trocknen.

All diese Zahlen und persönlichen Geschichten sind Ergebnis einer langjährigen Forschung, die 2018 abgeschlossen wurde. Heraus kam eine Ausstellung auf elf Tafeln, die sich derzeit und noch bis Dienstag, 31. März, in den Räumen des Johann-Friedrich-Danneil-Museums in Salzwedel befindet.

„All das ist auch eine Erklärung für unser demografisches Problem“, sagt Birgitt Neumann-Becker und nimmt damit Bezug auf die Bürger, die es schafften, sich den Klauen des Staates zu entziehen. 3,7 Millionen Menschen taten dies von 1949 bis 1989.

75 Menschen schafften es in Sachsen-Anhalt nicht und wurden nach derzeitigem Stand Todesopfer ihres eigenen Staates. Darunter 62 Zivilisten, sechs Soldaten bei Fluchtversuchen und sieben Grenzsoldaten im Dienst. Insgesamt seien 465 Todesopfer in Zusammenhang mit Flucht oder ähnlichem zu beklagen. Darunter 327 Mauertote, wie Neumann-Becker erläutert.

Die Toten selbst waren zu 89 Prozent Männer. Schaut man auf die Altersgruppen, sind mit 61 Prozent vorwiegend Menschen zwischen 18 und 30 Jahren Opfer geworden. Es folgt mit 26 Prozent die Altersgruppe der 31- bis 50-Jährigen, neun Prozent wurden keine 18 Jahre alt und nur vier Prozent waren älter als 50 Jahre. Diese Zahlen stützen die Aussage der Landesbeauftragten, dass der demografische Wandel im Osten auch darauf zurückzuführen sei.

Wie Birgitt Neumann-Becker weiter erläutert, wurden die meisten Opfer an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niederachsen erschossen, genau genommen 63. Elf sind verunglückt, beispielsweise im Harz durch Stürze. Weitere acht Menschen haben sich selbst das Leben genommen, 13 wurden durch Selbstschussanlagen getötet und noch einmal elf sind ertrunken.