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Musikgeschichte Die Auferstehung des Thomas Selle

Wie kam eine umfangreiche Sammlung von Handschriften aus dem 17. Jahrhundert nach Salzwedel? Ein musikalischer Historienkrimi.

08.05.2019, 13:00

Salzwedel l Wer Monika Mandelartz, Multiinstrumentalistin, Komponistin und Musikwissenschaftlerin, zuhört, wird unweigerlich in den Bann ihrer Berichte zur Kirchenmusikgeschichte des 17. Jahrhunderts gezogen. Der Zuhörer meint, dem Komponisten, mit dem sich Mandelartz seit mehr als zehn Jahren intensiv beschäftigt, noch bei der Arbeit mit Tinte und Feder über die Schulter schauen zu können.

Monika Mandelartz, 1965 in Mönchengladbach geboren, hat sich mit großer Freude in ihre aktuelle Arbeit gestürzt und damit den Stücken von Thomas Selle – sie stammen vermutlich aus den Jahren zwischen 1620 und 1634 – wieder ein klangvolles Leben eingehaucht. „Von insgesamt mehr als 243 Kompositionen sind 80 vollständig erhalten, die restlichen teilweise rekonstruierbar“, erklärt die Musikpädagogin im Programmheft zur Wiederaufführung der 400 Jahre alten Werke in der Katharinenkirche.

Niemand weiß, wie lange seine Kompositionen und die darin enthaltenen Stücke anderer Komponisten in der Kirchenbibliothek Salzwedel, über der Sakristei in der Katharinenkirche, schlummerten. Noch weniger ist darüber bekannt, wie sie überhaupt dorthin kamen. Denn der 1599 in Zörbig geborene Thomas Selle wurde nach mehreren beruflichen Stationen in Norddeutschland 1641 der erste Kirchenmusikdirektor für die fünf Hauptkirchen der Hansestadt Hamburg. Verbindungen nach Salzwedel lassen sich in seiner Lebensgeschichte nur schwer ziehen, beruhen vielfach auf Vermutungen, wie auch Stadtarchivar Steffen Langusch im wissenschaftlichen Diskurs mit Mandelartz in der Alten Lateinschule erklärte.

Dort berichtete Monika Mandelartz im Vorfeld des Konzertes über ihre Recherchen zu den zwölf Schubern mit den enthaltenen Stimmbüchern. Die Wissenschaftlerin hat alle abgeschrieben und die Noten in Partitur gesetzt. „Die Salzwedeler Handschrift ist ein echtes Praxisbuch“, erklärte Mandelartz ihren rund 80 Zuhörern im Saal der Lateinschule. Sie erzählte, dass Selle, der 1622/23 in Leipzig studierte und anschließend Lehrer in Heide (Holstein) wurde, zu allen Kompositionen Anmerkungen hinein schrieb. So gibt es Besetzungsangaben teilweise mit Namensnennungen. „Wir erfahren, an welchen Stellen Schüler („pueri“) gesungen haben, welche Stimme er selbst gespielt hat („ego“) oder welche Stücke er für überarbeitungswürdig („ist schlecht“) hält“, gibt Mandelartz tiefe Einblicke in die Arbeit des Komponisten aus dem Barock.

Mehrfach verwende Selle am Rande der Notenblätter die Ausdrücke „schlecht“ oder „ist schlecht“ erzählt Mandelartz weiter. Und klärt auch im Programmheft auf: „Damit ist nicht ein Abwerten der Komposition gemeint, sondern ganz schlicht, dass die Mehrstimmigkeit nicht funktioniert.“ Jedes der Stücke, auch die Mehrzahl der geistlichen Werke, strahle „eine unglaubliche Lebensfreude aus“, sagte Mandelartz.

Das Publikum konnte diese Freude beim abendlichen Konzert ihres Ensembles „Metamorfosi“ mit der Salzwedeler Kantorei in der Katharinenkirche nachempfinden. Die hellen Sopranstimmen im Gegensatz zum Tenor und Bass im Zusammenspiel mit Cembalo, Harfe und Blockflöte versetzten die Zuhörer in die Zeit von Thomas Selles Schaffenskraft zurück. Von der bleiernen Schwere mancher Kirchenmusik war dabei wenig zu hören. Und die Musiker spielten die Stücke, ohne sie jemals selbst gehört zu haben. „Es gibt ja keine Referenzaufnahmen.“

Es ist nicht ganz verwunderlich, dass in der Salzwedeler Handschrift auch sieben weltliche Stücke zu finden sind, „die man sich gut im Kreise von Studenten vorstellen kann“, sagte Monika Mandelartz. Sie vermutet, dass es sich dabei um frühe Jugendkompositionen des späteren Lehrers handelt. „Besonders diese weltlichen Stücke sind voller Korrekturen und Streichungen“, berichtet die Wissenschaftlerin.

„Die Handschriften der Kirchenbibliothek Salzwedel ergänzen und erweitern den Blick auf das Leben und Schaffen des Thomas Selle“, freut sich Mandelartz über den für sie sehr unerwarteten Fund in der nördlichen Altmark.

Gehütet wird der musikalische Schatz von Pfarrer Matthias Friske, eingeschlossen im Stahlschrank. Für die Anfrage von Monika Mandelartz gab es eine Ausnahme, sie konnte die Notenblätter studieren und dafür auch ausleihen. „Dafür bin ich der Kirchengemeinde sehr dankbar“, wiederholte die Musikpädagogin bei der Vorstellung mehrfach. Und in Salzwedel lagern noch weitere Schätze. Rund 4200 Titel umfasst die Kirchenbibliothek. „Damit ist sie die Größte in der Mark Brandenburg“, weiß Matthias Friske.

Vom musikalischen Talent des barocken Komponisten Thomas Selle und den Künsten des Ensemble Metamorfosi, durften sich übrigens nicht nur die Salzwedeler überzeugen. „Wir planen eine Tournee, die an die Lebensstationen Selles wie Zörbig oder Leipzig führen soll“, kündigte eine zufriedene Monika Mandelartz an.