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Schule Respekt beginnt im Kinderzimmer

Wo das Vorbild der Eltern versagt, kämpfen Lehrer und Sozialarbeiter im Schulalltag auf verlorenem Posten.

Von Cornelius Bischoff 06.04.2020, 13:45

Salzwedel l "Wenn sich zwei Menschen treffen, gibt es genau eine Möglichkeit, um Verletzungen zu vermeiden: Den Kontakt auf Augenhöhe", sagt Carsten Ahlborn und: "Was schon zwei Menschen nicht immer gelingt, wird in der Schule zum Abenteuer." Carsten Ahlborn ist Sozialarbeiter an der Comenius-Gemeinschaftsschule in Salzwedel. Über 30 Kinder je Klasse sind dort keine Seltenheit. Auf kleinstem Raum treffen nicht nur pubertierende Mädchen und Jungen zusammen. Das Klassenzimmer ist auch ein Schmelztiegel unterschiedlicher Meinungen, mehrerer Nationalitäten, verschiedenster Vorkenntnisse und „mal mehr und mal weniger Lust auf Schule“, sagt Ahlborn. Für den Erfolg einer Unterrichtsstunde gebe es ein einziges Rezept: Respekt. Davon ist Carsten Ahlborn überzeugt.

„Es gibt eine Menge Erziehungs-Konzepte und Leitfäden“, sagt der Schulsozialarbeiter. Die Bücher änderten aber nichts daran, dass das Miteinander von Menschen nur in dem Fall gelingt, wenn man im Gegenüber kein Opfer sieht. Die Bezeichnung „Du Opfer!“ gehöre unter Heranwachsenden zu den gängigen Bezeichnungen, um das Gefühl der eigenen Überlegenheit zu betonen.

Carsten Ahlborn kennt eine Menge Schimpfworte. Gehört hat er sie auch bei den Kleinsten, den Fünftklässlern der Comenius-Schule. Sicher sei, dass diese Kinder einen Teil der Bezeichnungen, die einigen von ihnen geläufig über die Lippen kommen, selbst nicht verstehen. „Der Lehrer hat die Möglichkeit, das Kind anzusprechen, um Einsicht zu werben oder dem Schimpfwort den Stempel ‚schlimm‘ aufzudrücken“, sagt Ahlborn. Im Vordergrund stehe aber eigentlich die Frage, ob das Kind dort, wo es das Schimpfwort aufgeschnappt hat, als gleichwertiger Menschen gesehen und behandelt wird.

Diese Einschätzung bestätigt Irene Barth. Die Sozialarbeiterin an der Ganztags-Gemeinschaftsschule G.E.Lessing in Salzwedel erzählt, dass vielen Eltern die Einsicht fehle, das eigene Verhalten zu ändern. „Das Vorbild der Eltern entscheidet darüber, ob und wie sich die Kindern in der Gemeinschaft bewähren.“ Zu den verbreiteten Irrtümern gehöre es, dass die Schule ein Ort sei, an dem Erziehung passiert.

„Kein Lehrer kann den Schaden auffangen, den ein Mangel an Interesse und fehlende Vorbilder in sechs Lebensjahren angerichtet haben“, unterstreicht Carsten Ahlborn: „Alles was wir leisten können, ist, den Kindern Anstöße zu geben, die auf lange Sicht vielleicht dazu führen, über das eigene Verhalten nachzudenken.“ Voraussetzung hierfür ist aber das Vertrauen der Kinder.

„Darum ist es so wichtig, dass die Lehrer Zeit haben, sich neben dem Unterricht in Projekte einzubringen und die Chance bekommen, ‚ihre‘ Schüler tatsächlich kennenzulernen“, erklärt Irene Barth. Es sei schwierig, das Vertrauen von Kindern zu gewinnen, denen man zweimal die Woche für eine Stunde im Unterricht begegnet. „Erinnern Sie sich an Ihre eigene Schulzeit und fragen Sie sich, was Ihre eigenen Lieblingslehrer damals richtig gemacht haben, dann haben Sie die Antwort gefunden“, sagt Barth. Genau diese Chance habe jeder Lehrer verdient. Der Alltag aber lasse den Lehrenden – eingebunden , zwischen Unterricht, Korrekturen und wachsender Bürokratie – nur in Ausnahmefällen die Luft für ein ungezwungenes Miteinander im Schulalltag.

„Die Schule ist ein Brennpunkt der Themen, die bei den Jugendlichen zu Hause, am Küchentisch und auf der Straße, diskutiert werden“, sagt Jens Ahlborn: „Wir hören ungefiltert, welche Meinungen und Worte in den jeweiligen Elternhäusern gebraucht werden. Ein Teil unserer Aufgabe ist es, diesen Kindern das Angebot zu machen, sich an Gedanken und Worte zu gewöhnen, die andere Menschen nicht verletzen.“ Oft nämlich seien diejenigen, die ihre Mitschüler gedankenlos beleidigen, von der heftigen Reaktion ihrer Opfer überrascht. In solchen Situationen biete sich, sagt Ahlborn, für den Sozialarbeiter eine Möglichkeit, für Nachdenken und ein geändertes Verhalten zu sorgen.

Gerade weil die Gemeinschaftsschule eine bunte Vielfalt junger Menschen unter einem Dach vereint, sind beide Schulsozialarbeiter stolz auf die Leistung der Lehrer ihrer jeweiligen Schulen: „Unsere Kollegen werden nicht müde, für Rücksichtnahme und Respekt zu werben – neben ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Unterricht.“ Dass sich der Schwerpunkt bei der täglichen Arbeit der Lehrkräfte verschoben habe, bestätigt Carsten Ahlborn auf Nachfrage. Die Vermittlung von Wissen, um junge Menschen auf Prüfungen und den Start in ihr späteres Berufsleben vorzubereiten, stehe inzwischen gleichberechtigt neben dem Bemühen um einen Ausgleich der Interessen im Klassenzimmer.

Ahlborn: „Schüler, die zwischen den beiden Extremen stehen, entweder sehr gut oder besonders ‚verhaltensoriginell‘ zu sein, durchlaufen den größten Teil ihre Schulzeit weitgehend unbeobachtet.“ Auffällig sei zudem, dass sich in den letzten Jahren das Machtgefüge auf dem Schulhof verschoben habe: Ein guter Teil der Übergriffe – in Wort und Tat – gehe inzwischen von solchen Gruppen aus, die jahrelang den besonderen Schutz der Pädagogen genossen hatten: Jüngere Schüler und Mädchen hätten begonnen, die „Großen“ ‚anzupöbeln‘, wohl wissend, dass diese kaum eine Möglichkeit haben, sich gegen Übergriffe zu wehren ohne selbst in die Kritik zu geraten. „Ein Lehrer müsste heute sechs Arme und sechs Augen haben, um allen Aufgaben gerecht zu werden“, sagt Ahlborn. Für den Anfang würde es aber reichen, sollte es dem Land gelingen, mehr und jüngere Lehrer für den Dienst an Schulen zu gewinnen.