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Nepal Schatz mit den roten Schuhen

Vor einem Jahr erschütterte ein Erdbeben Nepal. 2,8 Millionen Menschen wurden obdachlos. Einer von ihnen war Shankar Sigdel.

Von Olaf Koch 22.04.2016, 02:57

Schönebeck/Osterweddingen/Magdeburg l So zynisch es klingen mag, aber das Erdbeben vor einem Jahr in Nepal war ein Glück. Zumindest für Shankar Sigdel. Der 32-Jährige wartete seit Wochen auf seine Ausreise in Richtung Deutschland, um ab August eine Ausbildung als Altenpfleger beim Deutschen Roten Kreuz, Kreisverband Wanzleben, beginnen zu können. Doch die bürokratischen Hürden, die irgendwo unsichtbar zwischen ihm und Deutschland aufgestellt waren, schienen zu hoch für eine schnelle Ausreise zu sein.

Längst lagen alle Papiere vor: Das DRK als Arbeitgeber hatte einen seit Jahren freien Ausbildungsplatz und wollte diesen mit dem jungen Mann aus Nepal besetzen, die Magdeburger Berufsschule „Otto Schlein“ stand dem neuen Schüler mit offenen Armen gegenüber, die Bundesagentur für Arbeit in Wanzleben hatte ihre Zustimmung signalisiert.

Als dann am Sonnabend, 25. April, um 11.56 Uhr Ortszeit 80 Kilometer nordwestlich von Nepals Hauptstadt Kathmandu die Erde bebte, schien mit den Häusern des Landes auch die Zukunft für den jungen Mann zusammenzubrechen. Mit einem Wert von 7.8 auf der Richterskala war es eines der schwersten Erdbeben der vergangenen Jahrzehnte in jenem Land, dass zu den ärmsten der Welt gehört. 9000 Menschen starben, als sich zwei Kontinentalplatten in diesem Hochrisikogebiet gegeneinander schoben.

Das alte Lehmhaus, in dem Shankar Sigdel mit seiner 74-jährigen Mutter und dem 45 Jahre alten behinderten Bruder wohnte, war zerstört. Er und seine Familie waren obdachlos. Es wurden Zelte besorgt, in denen die Familie die nächsten Tage und Wochen provisorisch verbrachte.

Nach Tagen des Chaos‘ und der Hilflosigkeit wandte sich Shankar Sigdel an die Deutsche Botschaft und schilderte seine aussichtslose Situation – eigentlich nur, um dort mitzuteilen, dass er Pass und wichtige Dokumente aus dem halb zusammengestürzten Haus retten konnte. Eine Woche später bekam er einen Anruf von einer Botschaftsmitarbeiterin. „Sie sagte mir, dass ich in den nächsten drei Tagen ausreisen dürfe, wenn ich sofort ein Flugticket und eine Krankenversicherung vorlegen könne“, erinnert sich Sigdel. Die Deutsche Botschaft in Kathmandu wusste um den Ausbildungsbeginn im August, ließ den Nepalesen aber schon Mitte Mai aus humanitären Gründen vorzeitig nach Deutschland einreisen.

Nicht ohne Grund: Das Erdbeben hatte 25 000 Menschen verletzt, 2,8 Millionen obdachlos gemacht, insgesamt wurden 130 000 Häuser zerstört, mehr als drei Millionen Menschen waren auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. „Ich danke Deutschland, dass es in so einer Krise so unbürokratisch geholfen hat“, sagt der 32-Jährige heute.

Unbürokratisch im wahrsten Sinne des Wortes. Mit einem Visum „Tätigkeit als Pflegehilfskraft beim DRK-Pflegeheim in Osterweddingen“ reiste Shankar Sigdel nach Deutschland und stellte die Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit (Abteilung Arbeitsmarktzulassung) vor ein nie dagewesenes Problem: Als Pflegehilfskraft, wie die Deutsche Botschaft im Visum schwarz auf weiß genehmigte, hätte gar keine Ausreise stattfinden dürfen. Dieser Beruf steht nämlich nicht auf der sogenannten Positivliste: Die gibt die Bundesagentur in Nürnberg regelmäßig überarbeitet heraus, um Zuwanderung in bestimmte und unterbesetzte Mangel-Ausbildungsberufe zuzulassen. Unter anderem zählen dazu Tätigkeiten in der Altenpflege. Aber eben nicht als Hilfskraft ...

Die Zeit von der Einreise bis zum Ausbildungsbeginn am 1. August wurde nach einem Vorschlag der Arbeitsagentur elegant gelöst: Shankar Sigdel durfte ein Praktikum im Pflegeheim absolvieren. Der Vorteil dieser Regelung lag auf der Hand: Der zukünftige Auszubildende gewann so nicht nur einen Einblick in die Funktion eines deutschen Pflegeheimes, sondern konnte auch gleich Kontakt zu seinen zukünftigen Kollegen und Patienten aufbauen.

„Wir haben diese Entscheidung nicht bereut“, berichtet Guido Fellgiebel, Geschäftsführer des DRK-Kreisverbandes Wanzleben. Er lernte Shankar Sigdel ein Jahr vorher kennen, als er als Tourist für drei Monate Deutschland bereiste. Unter anderem besuchte er den DRK-Kreisverband und das Pflegeheim in Osterweddingen. „Wir waren von seiner höflichen, zurückhaltenden und offenen Art so angetan, dass wir ihm dieses Jobangebot spontan gemacht haben“, begründet Guido Fellgiebel.

Bekannt war Shankar Sigdel nicht nur in Wanzleben, sondern auch in Schönebeck, Barby, Calbe und Bördeland. Er wurde damals von mehreren Schulen eingeladen, Vorträge über sein Land zu halten.

So kamen sich Rotes Kreuz und der Gast aus Nepal näher. Nicht nur die menschlichen Faktoren stimmten, sondern auch die Grundlagen, die Shankar Sigdel mitbrachte: Der studierte Betriebswirt und Hotelmanager war ehrenamtlich als Sozialarbeiter für Straßenkinder und in einem Altenheim in Kathmandu tätig. Zudem ist er Mitglied in der Nepal Red Cross Society. „Das alles hat uns sehr gut gefallen, dass er nicht nur fachliches Wissen hatte, sondern auch Menschlichkeit zeigte“, so der Geschäftsführer.

Nur eines fehlte noch: die deutsche Sprache. Aber kein Problem für den überaus ehrgeizigen Sigdel. Während eines halben Jahres erlernte er am Goethe-Center im heimischen Kathmandu nach Hindi und Englisch seine dritte Fremdsprache und schloss alle notwendigen Prüfungen mit gut und sehr gut ab.

Und heute? Nun ist Shankar Sigdel fast ein Jahr in Deutschland und hat sich an die Kultur, die sich doch sehr von der nepalesischen unterscheidet, gewöhnt. „Für uns als DRK ist Shankar Sigdel eine Bereicherung. Seine Mentalität, sein Umgang mit den Menschen und seine Kollegialität sind ausgezeichnet“, so der Geschäftsführer, der trotz der übergroßen Bürokratie es immer wieder versuchen würde, Menschen aus dem Ausland, die eine Ernsthaftigkeit für einen Beruf und das Rote Kreuz zeigen, auch zu fördern.

Im DRK-Pflegeheim ist Shankar Sigdel als „Schatz mit den roten Turnschuhen“ bekannt. Wohnbereichsleiterin Nancy Weber schätzt seine Arbeit als sehr gut ein, er ist fleißig und umsichtig. „Außerdem geht er so liebevoll mit den Bewohnern um.“ Und die roten Turnschuhe? Rot ist die Farbe des DRK – und modisch zugleich. Gute Arbeit und gut aussehen, müssen sich eben nicht ausschließen.

Voll des Lobes sind auch die Mitschüler der Klasse AP15.1, seine Klassenleiterin sowie Schulleiterin Heidrun Russek der Magdeburger Berufsschule „Otto Schlein“. Sie hat generell positive Erfahrungen mit Schülern mit Migrationshintergrund gemacht. „Diese Schüler haben einfach eine höhere Motivation. Sie wissen, dass sie hier in Deutschland die Chance bekommen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Diese Einstellung vermisse ich oftmals bei deutschen Schülern“, analysiert sie.

Diese Einschätzung stützt sie mit einem Blick auf die vergangenen Jahre. Zahlreiche Jugendliche aus Irak, Iran, Kosovo, Russland und eben aus den wechselnden oder wiederkehrenden Krisenherden der Welt lernten an der Berufsschule, teilweise schon in zweiter Generation. Sie schätzt die andere Mentalität der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und vor allem den Fakt, dass die Migrationsschüler meist kein Anspruchsdenken haben.

Insgesamt bringen ausländische Schüler in der Klasse ihrer Meinung nach nur Vorteile: Die Gruppenverbände werden interkulturell, bauen Vorurteile ab, lernen andere Menschen mit anderen Sitten kennen und nehmen diese mit ihren speziellen Problemen anders wahr. „Ich sehe das insgesamt nur als Bereicherung.“

Statistisch erfasst werden ausländische Schüler nicht gesondert. In der Otto-Schlein-Berufsschule gibt es derzeit 1300 Schüler, darunter rund 40 Ausländer. Und einer von ihnen ist nun Shankar Sigdel aus Nepal. Er bringt im Übrigen auch in der theoretischen Ausbildung gute und sehr gute Noten mit nach Hause. Aus diesem Grund hat die Schulleiterin Sigdel im Mai dieses Jahres für einige Tage vom Unterricht freigestellt.

Dann wird er das erste Mal nach einem Jahr in Deutschland wieder zurück in seine Heimat fliegen, um die Berge des Himalaya-Gebirges zu sehen, die Hauptstadt Kathmandu und vor allem seine geliebte Familie. Und hoffentlich auch den Aufbauwillen seines stolzen Volkes ein Jahr nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe.