1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Schönebeck
  6. >
  7. "Ärzte werden mit goldener Kutsche abgeholt"

In den Altkreisen Aschersleben-Staßfurt und Schönebeck fehlen 27 Hausärzte/Dr. Heike Schlichthaar aus Schönebeck: "Ärzte werden mit goldener Kutsche abgeholt"

Von Anja Keßler 03.06.2011, 04:29

Es fehlt an niedergelassenen Ärzten in Sachsen-Anhalt. Mit der Einführung des sogenannten Demografiefaktors verdeutlicht die Kassenärztliche Vereinigung: Besonders prekär ist die Lage bei Hausärzten. Allein in den Planungsbereichen Schönebeck und Aschersleben-Staßfurt fehlen 27 Ärzte.

Schönebeck/Biere. Seit Oktober 2010 hat Heike Schlichthaar zwei Praxen. Eine ist die Hauptpraxis in Schönebeck, die zweite eine sogenannte Nebenbetriebsstätte in Biere. Montag, Dienstag und Freitag beginnt der Tag der Ärztin besonders früh. Um sieben Uhr öffnet die Praxis in Biere. "Bis acht Uhr habe ich den ersten großen Patientenschwung durch", sagt die 51-jährige Ärztin. Danach geht der Tag in Schönebeck meist bis 19 Uhr weiter.

"Wir müssen das Bild des Hausarztes verbessern"

Seit Oktober 2010 arbeitet Schlichthaar auch in Biere. Die Idee hatte sie schon ein halbes Jahr zuvor. Doch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) suchte eigentlich einen Hausarzt, der die Praxis von Dr. Dietrich Lohmann voll übernimmt. Lohmann wollte in Rente gehen, fand aber keinen Nachfolger. Die zwei weiteren Hausärztinnen im Ort hatten signalisiert, die bis zu 1000 Patienten im Quartal nicht aufnehmen zu können. Mehrere Interessenten sprangen kurzfristig ab, so dass die KV sich schlussendlich für Schlichthaar und die Lösung der Nebenbetriebsstätte entschied.

Zum Vorteil auch der zwei Schwestern, die für den alten Dr. Lohmann gearbeitet hatten. Eine Dritte hatte sich bereits einen neuen Job gesucht. "Wir mussten uns zwar auf ein neues Arbeiten mit Computer einstellen, aber das bekommen wir jetzt hin", sagt Rosemarie Brösel, in Biere als Schwester Rosi bekannt. 35 Jahre war die 59-Jährige bei Doktor Lohmann. Schlichthaar investierte mehrere Tausend Euro in die technische Ausstattung der Praxis. Untersuchungsgeräte, Telefonanlage, Computer. Seitdem werden die Rezepte nicht mehr per Hand ausgefüllt. "Wir arbeiten hier papierlos, sind über Internet mit der Hauptpraxis verbunden", erklärt Schlichthaar die Umstellung für die Schwestern. Allerdings bringt die schlechte Internetverbindung im Bördedorf die Ärztin oft zum Verzweifeln.

Im Altkreis Schönebeck fehlen insgesamt 6,5 Hausärzte. Das ergab die Bedarfsplanung der KV, die aller acht Wochen aktualisiert wird. Seit März wird für diese Planung nicht mehr nur die Bevölkerungszahl herangezogen, sondern ein sogenannter Demografiefaktor eingearbeitet. "Der Bedarf an medizinischer Betreuung ist bei älteren Menschen größer", erklärt dazu KV-Vorsitzender Burkhard John. Darauf zielt der Faktor ab, der nun die Planungen genauer an den Bedarf anpassen kann. Große Überraschungen habe es bei der Einarbeitung nicht gegeben, sagt John. "In Sachsen-Anhalt fehlen vor allem Haus- und Augenärzte."

Im Planbereich Schönebeck, der den Altkreis umfasst, gibt es neben den fehlenden Hausärzten auch eine offene Augenarztstelle. Für Aschersleben-Staßfurt sieht es im Augenarztbereich gleich aus, dramatisch ist es hier aber bei den Hausärzten: 21 Stellen sind hier nicht besetzt. Dazu fehlen HNO-, Haut-, Kinderärzte. Woran es liegt, dass ein Mangel im Ambulanzbereich herrscht, darüber lässt sich spekulieren.

KV-Chef John sieht mehrere Gründe. "Die jungen Mediziner, die vom Studium kommen, bleiben meist für ihre Facharztausbildung nicht in Sachsen-Anhalt." Die Hälfte der Studenten käme aus den alten Bundesländern, wohin sie auch zurückgingen. Die verbleibenden bekämen gute Angebote aus der Schweiz, den skandinavischen Ländern oder den alten Bundesländern. Und wer dann noch übrig bliebe, wolle sich lieber in den technischen Fachrichtungen ausprobieren, glaubt John, der selbst als Allgemeinmediziner eine Praxis in Schönebeck hat.

Die Facharztausbildung wird zu großen Teilen in Krankenhäusern absolviert. Eine feste Anstellung mit Schicht-Dienstplänen und die Attraktivität von Fachrichtungen wie Chirurgie oder Kardiologie seien da eine verlockende Alternative zum niedergelassenen Arzt, der selbständig und aufgrund von Bereitschaftsdiensten auch rund um die Uhr im Einsatz ist. "Wir müssen vor allem das Bild des Hausarztes verbessern", glaubt John. Der Verdienst sei auf einem hohen Niveau, vergleichbar mit dem in den alten Bundesländern. Allerdings kommen hier mehr Patienten auf einen Arzt und es fehlen die Einnahmen aus dem Bereich der Privatversicherten, die im Westen bei 20 bis 30 Prozent liegen und hierzulande gen Null tendieren.

Um den Ruf des Hausarztes zu verbessern, hat die KV vor sechs Jahren den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin in Magdeburg initiiert. Außerdem ist im Medizinstudium ein Blockpraktikum in einer allgemeinmedizinischen Praxis vorgeschrieben. "Der Hausarzt hat mit extrem komplizierten Fällen, bei denen mehrere Krankheiten auf einmal behandelt werden müssen, zu tun. Es geht um die Hinwendung zum Menschen", wirbt der KV-Chef. Wer die finanzielle Selbständigkeit scheut, dem zeigt John Alternativen auf: "Ärzte können andere Ärzte in ihrer Praxis anstellen. Es gibt auch die Möglichkeit - gerade für junge Mütter - halbtags oder stundenweise zu arbeiten."

Doch aufgrund dessen, dass so viele Stellen unbesetzt sind, steigt die Belastung derer, die noch da sind. "Je nach Jahreszeit habe ich im Quartal 700 bis 1000 Patienten allein in Biere", sagt Schlichthaar. Viele der Patienten sind nicht mehr mobil, die Zahl der Hausbesuche ist mit der Nebenbetriebsstätte sprunghaft angestiegen. Mit dem Wegfall der eigenständigen Praxis in Biere, kommen für die übrigen niedergelassenen Ärzte mehr Bereitschaftsdienste zu. "Ein bis zweimal im Monat habe ich Sitzdienst im Krankenhaus oder bin im Fahrdienst unterwegs", sagt Schlichthaar. "Und nach der Nachtschicht am Sonntag habe ich die ganz normale Sprechstunde am Montag."

"Es muss berufliche Perspektiven für die Partner geben"

Schlichthaar ist jetzt 51 Jahre alt. Die Nebenbetriebsstätte sieht die Diabetologin als neue Herausforderung an. Doch auf Dauer wird die Belastung zu groß werden. "Perspektivisch werde ich einen Arzt einstellen", sagt sie. "Doch junge Ärzte werden doch von Klinikchefs mit der goldenen Kutsche abgeholt." Neben finanziellen Aspekten sieht die Ärztin ein weiteres Manko für Sachsen-Anhalt: "Junge Mediziner locken die weite Welt und große Städte. Aber wer in einer Partnerschaft ist, der muss hier auch eine berufliche Perspektive für die Frau oder den Mann haben." Einzig die Kinderbetreuung sei in Sachsen-Anhalt gut. "Aber mit einem Arztgehalt und einem zweiten Einkommen kann man in München auch die Tagesmutter bezahlen."