Allgemeiner Behindertenverband organisiert Bustour / Mitreisende erfahren mehr über Historie und Neuzeit Erste Stadtrundfahrt in Schönebeck: Senioren erkunden ihre Heimat, ihre veränderte Elbestadt
Hühneraugenpflaster stammen aus Schönebeck. Hausschuhe wurden hier einst ebenso hergestellt. Dass Munition und Traktoren auch Kinder der Elbestadt sind, ist nicht neu. Interessant ist aber zu sehen, was aus den einstigen Produktionsstätten geworden ist. Schönebeck hat sich in den zurückliegenden Jahren entwickelt. Wo sich was verändert hat, das haben Senioren während einer eigens für sie kreierten Stadtrundfahrt erfahren. Informativ ist diese Reise aber auch für Jüngere oder Zugezogene.
Schönebeck l "Nun sag\' noch einer, es gibt keine Arbeit." Als Schönebecker Senioren die Unternehmen im Industriegebiet Barbyer Straße und Grundweg sehen, staunen sie nicht schlecht. "Hier sind ja viele Betriebe draußen", sagt Vera Donig. Doch die betagten Schönebecker sind nicht nur von der Wirtschaftskraft in der Elbestadt begeistert. Sie haben ihre Stadt, ihr Schönebeck, ihre Heimat neu entdeckt. Möglich gemacht hat das der Allgemeine Behindertenverband in Sachsen-Anhalt (ABiSA). Der Verein hatte erstmals zu einer Stadtrundfahrt eingeladen. Erklärtes Ziel: Die Senioren sollen die neuen Ecken in Schönebeck kennenlernen und sehen, wie sich die Stadt in den vergangenen Jahren entwickelt hat.
"Denn viele Senioren kommen aus ihren Vierteln, ihren Wohngebieten nicht mehr wirklich raus", erklärt Frank Schiwek, ehrenamtlicher Geschäftsführer des ABiSA. "Viele haben beispielsweise im Sprengstoffwerk gearbeitet. Nun sehen sie, was sich hier getan hat oder eben auch nicht", erklärt Schiwek den Hintergrund.
Die Stadtrundfahrt wird in zwei Kleinbussen vom Verein und der Intar GmbH absolviert. Als Reiseleiter fungieren Karl-Heinz Herglotz und Frank Schiwek. An zwei Tagen fahren sie mit 30 Teilnehmer durch Schönebeck. Mit dabei: die Volksstimme.
"Wie alt ist unser Wohngebiet", fragt Frank Schiwek in die Runde, während der Bus den Parkplatz hinter dem "Haus Luise" verlässt. Eine betagte Dame vermutet mehr als 30 Jahre. "Denn ich bin 1979 hierher gezogen", erklärt sie. Und sie hat recht. "1974 wurde mit dem Bau des Gebietes Moskauer Straße begonnen", verdeutlicht Schiwek.
Die Tour führt auf die Frie-drichstraße zum ehemaligen Gummiwerk. "Das ist die erste große Veränderung", kündigt der ABiSA-Geschäftsführer an. Dass das einstige Stadtcafé der Baustelle noch weichen soll, ist die eine Information. Die andere: "Man wusste vorher nicht, dass an der Schillerstraße so schöne Häuser stehen." Der Blick auf die Parallelstraße währt nicht lange. Der Bus rollt schon weiter durch das Bahnbrückental und fährt nach rechts auf die neue Söker Straße.
Derweil das Gelände des Energieversorgers EMS am Autofenster vorbeihuscht, erzählt Schiwek von dem Museum des Vereins Imuset. Schließlich geht der Blick nach rechts. Da, wo einst Dieselmotoren produziert wurden, befindet sich heute ein Standort des weltweit agierenden Konzerns Thyssen Krupp. Einige Meter weiter schon ist Carlshall zu sehen, die Villa des Anfang des 20. Jahrhunderts lebenden Wolfgang Wanckel. Dass das Haus heute nur noch eine Ruine ist, bedauern die Senioren. Doch Abwechslung folgt auf dem Fuße. Die Stadtrundfahrt führt vorbei am technischen Polizeihof. Eine Seniorin fragt nur: "Sind die da noch in Gange?" Ein kurzes Ja von Schiwek beantwortet ihre Frage.
"Auf dieser Straße fahren wir fast komplett um Schönebeck herum"
Über den Heinitzhof geht es auf die Barbyer Straße. Kurz entdecken die Fahrgäste die neue Elbbrücke, dann geht es aber schon vorbei an der Halle, wo heute Teile für Windkraftanlagen gebaut werden, rechts ab in die Industriestraße. Und Schiwek versetzt die Teilnehmer in eine frühere Zeit: "Jetzt fahren wir ins Traktorenwerk rein." Damals sei hier keiner so einfach hineingekommen, denn eine Schranke hatte das Gelände abgeschlossen.
Vorbei an Firmen wie Ambulanz Mobile führt die Route auf den Grundweg. Die Druckerei Schlüter und deren Plan, ein Teilstück des Grundweges für das Firmengelände zu nutzen, findet Erwähnung. Schon eine Minute später fahren die Senioren am Ostfriedhof vorbei. "Da gucken wir nicht hin, denn da kommen wir noch früh genug hin", sagt Schiwek im scherzhaften Ton. Die Senioren interessieren sich eh mehr für das Stadion des Schönebecker Sportvereins und die Kegelbahn an der Barbarastraße. "Da können wir doch auch mal hin", schlägt eine Seniorin, die auf der Rückbank sitzt, vor.
Über den Hohen Weg geht es nochmal auf den Grundweg. Hier habe sich einst der Neubau des Gummiwerkes befunden. "Und rechts seht ihr das Gebäude, wo damals die chinesischen Gastarbeiter gewohnt haben. Es folgt die einstige Verwaltung, wo sich heute das Jobcenter befindet." Im beschaulichen Sachsenland angekommen, geht es auf den Graseweg, zu den Anfängen des E-Centers, wie es Frank Schiwek formuliert. In der flachen Halle, die heute mit dem Wort Reiterhalle überschrieben ist, soll der Lebensmittelhändler nach der Wende seinen Standort in Schönebeck gehabt haben. "Das war einer der ersten Supermärkte bei uns nach der Wende", sagt Schiwek und erklärt, dass der aus heutiger Sicht nicht so praktikable Standort damals gut angenommen wurde.
Am Kreisverkehr geht es auf die B 246a. Für die Senioren ist das eine neue Strecke. "Auf dieser Straße fahren wir fast komplett um Schönebeck herum", informiert der Reiseleiter. Rechts am Fenster huschen Felgeleben mit seiner Paul-Illhard-Straße, die Salzer Johanniskirche und das Gradierwerk vorüber. An der Kreuzung zum Kurpark schaltet die Ampel gerade auf Rot. Warten ist angesagt. Schiwek weist derweil auf das Kusswäldchen hin. Auf die Volksstimme-Frage, wer hier den einen oder anderen Kuss bekommen hat, lächeln die Senioren nur. "Das verraten wir nicht", spricht eine Dame für alle Mitfahrer. Dann springt die Ampel auf Grün.
Die Reise geht weiter, vorbei an Biere, wo die Kräne der Telekom-Baustelle zu erkennen sind, und Welsleben. Hier verlassen die zwei Reisebusse die B 246a, es geht Richtung Schönebeck. Rechts liegt der Krähenberg, und Schiwek bereitet die Mitreisenden auf einen herrlichen Ausblick vor: "Wenn man jetzt über den Berg fährt, sieht man die ganze Stadt vor sich liegend."
Nachdem dieser genussvolle Moment ausgekostet ist, führt die Route auch schon links ab in den Industriepark West. "In dieses Gebiet wurde das alte Sprengstoffwerk eingegliedert", erklärt Schiwek und gibt den Senioren damit die Orientierung wieder. Denn hier kennen sich viele von ihnen aus. "Hier habe ich in den 1950er Jahren gearbeitet", informiert eine Dame ihre Mitfahrer. Eine andere sagt beim Blick nach rechts und links: "Hier hat sich vieles geändert." Das bestätigt Frank Schiwek, für ihn zählt aber mehr, "dass noch viel zu tun ist". An manch einer Stelle entlang der Wilhelm-Dümling-Straße sind sogar noch alte Bewachungsanlagen zu sehen. "Das Sprengstoffwerk ist flächenmäßig das größte Unternehmen in Schönebeck gewesen", gibt der ABiSA-Mann die letzte Information zu dieser wichtigen Epoche in der Entwicklung Schönebecks.
"Das war eine riesige Kneipe mit Tanzsaal, die sollen das beste Parkett gehabt haben"
Der Bus fährt derweil im Kreisverkehr auf die Magdeburger Straße. Rechts ist die Berufsbildende Schule, in der sich inzwischen auch die Schifferschule befindet. Über die Magdeburger Brücke, die für viele Senioren neu ist, geht es nach Frohse. Linker Hand erkennen die Reisenden das Tessmannheim, heute sind in der ehemaligen Gaststätte die Sportler von Lok Schönebeck zuhause. Auf der Straße Alt Frohse, die an der Laurentii-Kirche und am einstigen Rathaus vorbeiführt, gibt Schiwek den Hinweis, dass "wir nun praktisch auf der alten Straßenbahnlinie fahren". Ein zustimmendes Ja tönt aus dem Bus. An der Kurve zur Geschwister-Scholl-Straße hat einst die Gaststätte Zur Ausweiche gestanden. Der Name war hier Programm. "Denn an dieser Ecke hat sich auch die Ausweiche für die Straßenbahn befunden", erzählt der Reiseleiter.
Rechts und links huschen vor dem geistigen Auge der Mitfahrer die Hermania, das Postzollamt und die Tonhalle vorüber. An letztere kann sich Vera Donig noch gut erinnern. "Das war eine riesige Kneipe mit Tanzsaal, die sollen das beste Parkett gehabt haben", berichtet sie. Zudem sei dort viel tschechische Blasmusik gespielt worden. Heute hat die Hermania den Namen Schirm GmbH, das Postzollamt und die Tonhalle haben keine Funktion mehr, der Glanz von einst ist vorüber.
Lobende Worte ernten schließlich die Salzblume und die Häuser im Gebiet rundherum. Über die Baderstraße gelangen die zwei Busse zum Cokturhof, hier fallen die Worte "Rat des Kreises", "Landkreis" und "Weltrad". Drei verschiedene Zeiten, die sich an einem Ort vereinen. Eine Ecke weiter zur Barbyer Straße benennt Schiwek die einstige Hausschuhfabrik "Schuh Rasch", links am Breiteweg folgen das Stadthaus, in dem ab 1848 Bürgerversammlungen stattfanden, die Hilfsschule, die Kommunale Wohnungsverwaltung und das Dienstleistungskombinat. Heute befinden sich in den beiden letztgenannten Gebäuden das Bauamt und ein weiterer Teil der Stadtverwaltung.
An der Kreuzung Nicolaistraße/Scholl-Straße verweist der Reiseleiter auf die Endstelle der Straßenbahn. Über den neuen Teil der Söker Straße geht es wieder zum Bahnbrückental und direkt dahinter rechts herum in die Bahnhofstraße. Das ist so erst seit dem vergangenen Jahr möglich. Deshalb sagt Schiwek zu seinen Mitreisenden: "Wir fahren jetzt falschherum in die Bahnhofstraße." Nun sehen die Senioren das Gelände des Gummiwerkes noch einmal, aber dieses Mal von der Schillerstraße aus.
"Ich war so lange schon nicht mehr hier, dass ich gar nicht gesehen habe, dass das Gummiwerk weg ist", sagt Vera Donig. Sie ist sichtlich erstaunt, was sich alles verändert hat in ihrem Schönebeck. Dafür kann sie diesen Blick eine Minute länger genießen. Der zweite Bus ist nämlich an einer Ampel verloren gegangen. Warten ist angesagt.
Als es wieder weitergeht, fährt die Gruppe an der Poliklinik und dem ehemaligen Traktorenwerk vorbei, wo sich nun ein Lebensmitteldiscounter befindet. Auf der Wilhelm-Hellge-Straße war einst das Kino Metropol. "Da brauchte man keinen Ausweis", berichtet eine Seniorin. Über die Edelmannstraße geht es zum Solequell. Es folgt das Kindersanatorium, worin heute ein Altersheim ist, die Sporthalle der Bruno-Bürgel-Schule und der Parkplatz, an dessen Stelle noch bis vor einigen Jahren die Bildungseinrichtung leer gestanden hat.
"Jetzt wird\'s holprig, wir kommen auf das Altstadtpflaster von Salzelmen"
Über die Schneidewindstraße führt der Weg nach Bad Salzelmen, oder wie es Frank Schiwek zu sagen pflegt: "Jetzt wird\'s holprig, wir kommen auf das Altstadtpflaster von Salzelmen." Der Marktplatz wird links liegen gelassen, auch wenn gerade Markttag ist.
Vorbei am Salzlandmuseum schauen die Senioren kurz nach rechts. Denn in dem Gebäude, in dem sich heute Beth Schalom befindet, ist einst die Verwaltung der Firma Kukirol gewesen. "Das sind die Erfinder des Hühneraugenpflasters", berichtet der Reiseführer, während die Fahrt schon an Resten des blauen Hofes, eines der ältesten Gebäude Schönebecks, vorbeiführt.
In der Geyerstraße erklärt Schiwek, dass die Straßen in Salze nach den Pfännern benannt worden. Ähnlich ist es mit den Straßennamen in dem Wohngebiet Blauer Steinweg. Obwohl hier einst die Häuser der russischen Offiziere standen, sind die Straßen den Blumen gewidmet. "Hier war ich überhaupt noch nicht", wirft Vera Donig in die Runde. Warum auch. Wer hier nicht wohnt, muss hier nicht hin. Interessant ist es trotzdem, es mal zu sehen.
Langsam neigt sich die Stadtrundfahrt dem Ende. Über die Magdeburger Straße geht es auf die Stadionstraße. Da, wo heute Menschen ihrem "Konsumrausch" im Salzer Park frönen, haben sich zu DDR-Zeiten LPG-Hallen befunden. Es geht auf die Friedrichstraße. Rechter Hand, kurz vor dem Lübschütz-Platz, ist eine Art Einkaufszentrum.
"Hier in der Töpferei Gerhard wurde zu DDR-Zeiten säurefester Ton gebrannt", berichtet Schiwek. Über ein Teilstück des Schwarzen Weges führt die Rundfahrt zu ihrem Anfangs- und Endpunkt. Im "Haus Luise" steigen die Senioren aus - mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht.
Auch Vera Donig ist rundum begeistert. Für sie gibt es so viel zu entdecken im neuen Schönebeck, dass sich eine weitere Stadtrundfahrt lohnen würde.
Der ABiSA will bei Nachfrage weitere Stadtrundfahrten anbieten. Interessenten können sich an die Geschäftsstelle im "Haus Luise" unter Telefon (03928)728672 wenden.