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Selbstversuch In der Welt der Dunkelheit

Volksstimme-Redakteuer Andre Schneider taucht in die Welt des Blinden Frank Brehmer ein.

Von Andre Schneider 30.12.2020, 23:01

Schönebeck l „Wir können uns verschiedene Dinge angucken“, leitet Frank Brehmer ein. Ja, Sie lesen richtig: angucken. Das meint Brehmer so, wie er es sagt. Zwar hat er seit seiner vollständigen Erblindung 2008 seinen Alltag umgestellt, seine Sprache aber nicht.

Umstellen muss ich mich allerdings. Ich sitze in der Wohnung von Frank Brehmer und seiner Lebensgefährtin Karin Hoffmann. Die Umgebung ist mir fremd. Ich weiß nicht, wo Tische und Stühle stehen, welchen Weg ich nach draußen gehen muss. Das einzige, was ich weiß: Gleich wird es dunkel. In dem Moment, in dem ich mir Augenklappen – mit elegantem Tiger-Aussehen – vor die Augen klebe. Dann tauche ich ein in eine mir fremde Welt. Die Welt von Frank Brehmer.

Er zeigt mir den Umgang mit dem Stock. Schnell finde ich Orientierungspunkte, ohne sie zu sehen. Schlage ich mit seiner Hilfe gegen den Herd, erklingt Metall. Ich verliere Kontrolle über Raum und Zeit. „Ich richte meinen Rhythmus nach Tag und Nacht aus, obwohl es bei mir immer dunkel ist“, erklärt mir Frank. Da sind wir unlängst beim „Du“. Gemeinsam gehen wir raus. Während sich Frank gekonnt, fast wie ein Sehender, durch die Wohnung bewegt, taste ich mich langsam zur Treppe. „Du hast auf den ersten Metern sehr ängstlich und verkrampft ausgesehen“, wird mir Karin Hoffmann später sagen. Beim Blick auf die Bilder hat sie Recht. Genauso fühle ich mich auch. Unsicher, hilflos.

Die Treppe meistere ich ohne Zwischenfall. Vorsichtig ertaste ich Stufe für Stufe, halte mich am Geländer fest. Der Hof erscheint mir riesig. Schließlich bewege ich mich langsam und noch immer vorsichtig.

Der Weg zurück fällt mir leichter. Auch die Küche finde ich besser. Denn ich beherzige einen Ratschlag: „Als Blinder muss man sich möglichst viel merken“, sagt mir Frank. Ich weiß also, wo mein Wasserglas steht, kenne den metallischen Klang des Herdes. Und doch: Das alles ist ein riesiges Abenteuer.

Und ein solches bleibt es auch bei unserem ersten Ausflug in den Straßenverkehr. Wieder kommt mir der Weg unendlich lang vor. Karin Hoffmann begleitet mich. Ernsthaft eingreifen muss sie aber nicht – ein Erfolg. Das ändert sich nach dem Mittagessen (Brötchen aufschneiden funktioniert blind ohne Verletzungen). Wir müssen den Bus am Bahnhof erreichen. Karin führt mich. Sonst schaffen wir es nicht. Wir gehen zu dritt die Straße in Richtung Imuset, vorbei am EMS-Gebäude an die Kreuzung des Bahnbrückentals. Vorbei ist es mit der Orientierung. Ich weiß nicht so richtig, wo ich bin, habe ein flaues Gefühl im Magen. Das alles geht schnell. Zu schnell für mich. Dabei merke ich, wie viele verschiedene Untergründe, Gehwegplatten und Wegformen es in Schönebeck gibt und wie es klingt.

Meine Umgebung nehme ich mit den Sinnen wahr, die mir bleiben. Als wir an parkenden Autos vorbeigehen, höre ich wie sich der Klang des Verkehrs verändert.

Doch der Klang des Verkehrs macht uns zu schaffen. Ein Müllauto verschluckt alle Umgebungsgeräusche. „In so einer Situation bleibe ich normalerweise auch stehen“, gesteht Frank. Beruhigend.

Irgendwann erreichen wir die Ampel am Bahnbrückental. Die Blindenmarkierungen im Boden machen uns darauf aufmerksam, dass wir an einer Gefahrenstelle sind. Ich suche nach dem Ampelknopf und lerne etwas Neues: An der Unterseite befindet sich ebenfalls ein Knopf zum Drücken. Wir passieren die Straße. Unter der Brücke hallt der Verkehrslärm. Zum ersten Mal weiß ich wieder, wo ich bin.

Busfahren wird das nächste Abenteuer. Das Fahrzeug ist eng, ist voll von Stufen und dann ist da in all meiner Überforderung auch noch die Maskenpflicht. Ansagen im Bus – Fehlanzeige. Zum Glück ist Karin noch dabei und der Fahrer ist ebenfalls freundlich. Dagegen ist Geld abheben mit elektronischer Ansage ein Kinderspiel!

Alles andere als ein Kinderspiel ist hingegen das unachtsame Verhalten mancher Verkehrsteilnehmer. Blind für die Bedürfnisse von Sehbehinderten hat ein Radfahrer seinen Drahtesel auf dem Leitsystem des Marktplatzes abgestellt. Jetzt ärgert mich das! Einige Stunden zuvor hätte ich es nicht einmal bemerkt.

Nicht bemerkt hätte ich auch Schönebecks Oberbürgermeister Bert Knoblauch (CDU) und den christdemokratischen Landratskandidaten Alexander Goebel. Sie sind zufällig vor dem Rathaus, als wir ins Gespräch kommen. „Sehr mutig“, spricht mir Knoblauch zu. Ob wir bei unserer nächsten Begegnung von einem Wiedersehen sprechen können, weiß ich allerdings nicht. Den Marktplatz werde ich sicherlich wiedersehen. Er wurde, so verriet mir Frank Brehmer, von den meisten Blindenverbänden kritisiert. „Es gibt dort keine Kanten und Bordsteine.“ Doch ich empfinde mich in meiner Lage nicht als orientierungslos – im Gegenteil.

Kanten und Steine gibt es wieder auf dem Weg zurück. Während wir den Breiteweg in Richtung Jakobikirche entlanggehen, vergesse ich fast, dass ich nichts sehe. Doch Fakt ist: Allein würde ich den Weg nicht zurückfinden. Dafür kenne ich die markanten Stellen der Strecke nicht gut genug. Schließlich verlasse ich mich sonst auf meine Augen. Die habe ich nicht mehr. Gehör und Tastsinn müssen das Sehen kompensieren. Das braucht Übung. Frank ist geübt. Dass er vorgeht, kann ich nur an seiner Stimme hören. Die verändert sich, während er seinen Kopf bewegt, wird kräftiger, wenn er auf mich wartet und ich ihm näher komme.

Was sich verändert, ist meine Sichtweise auf die Dinge. Am Anfang dieses unfassbaren Experimentes war ich unsicher. Ja, ich muss zugeben, dass ich selbst in der Nacht davor außerordentlich schlecht geschlafen habe. Doch mit der Zeit werde ich immer gelassener. Auch, weil Frank mir ein Gefühl vermittelt, dass Blindsein alles andere als ausweglos ist. Der Schönebecker benutzt ein internetfähiges Handy, so wie ich auch. Eine Stimme liest ihm seine elektronischen Nachrichten vor. Er benutzt soziale Dienste wie Whats-App. Er kann mit einer Handytastatur sogar richtig schreiben. Eine Anwendung seines Handys hilft ihm dabei, seine Post zu lesen.

Und schließlich ist da die Ehrlichkeit von Frank. „Als ich 2008 wieder erblindete, ging es mir richtig schlecht“, sagt er ruhig. Frank schlägt dabei einen sachlichen Ton an. Etwas wie Mitleid oder übertriebene Anteilnahme braucht er nicht. Für mich fühlt es sich in unseren gemeinsamen Stunden nicht so an, als würde sich unser Alltag stark unterscheiden. Frank steht mit beiden Beinen fest im Leben. Er meistert seinen Alltag spielend, braucht selten Hilfe. Er findet Lösungen. „Das Smartphone“, berichtet er, „ist mein fester Begleiter“.

Ein tragischer Unfall im Elternhaus ließ Frank Brehmer im Alter von neun Jahren sein Augenlicht verlieren. Viele Operationen und 24 Jahre in der Welt der Sehenden später, erblindete der Schönebecker 2008 vollständig. Vieles hat sich seither für Frank verändert. Er hat sich inzwischen an das Leben in Dunkelheit angepasst, neue Impulse gesetzt. Nur eines hat er nicht angepasst: Seine Sprache ist immer noch die der Sehenden.