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Thyssenkrupp Der Chef verlässt seine Schönebecker Familie

Sascha Singer, fünf Jahre Geschäftsführer des Lenkungswerkes in Schönebeck, wechselt nach Liechtenstein.

Von Olaf Koch 01.10.2019, 09:19

Schönebeck l Es gibt in der Elbestadt sicherlich schönere Aussichten. Wenn Sascha Singer von Thyssenkrupp Presta Schönebeck GmbH aus seinem Bürofenster schaut, sieht er eine Werkhalle, die die Patina des Scheiterns trägt. „Wenn ich ehrlich sein soll: Das ist für mich ein bisschen Motivation“, erzählt der 40-Jährige. Der Blick in die Öde gibt ihm den Grund dafür, gemeinsam mit seiner Belegschaft frühmorgens ins Werk zu gehen und abends nach getaner Arbeit die Hallen wieder mit Zufriedenheit zu verlassen.

Mit Erfolg: Als Sascha Singer im August 2014 die Verantwortung für das Schönebecker Werk übernimmt, hat dieses innerhalb des Konzerns nicht unbedingt den besten Ruf. Nach fünf Jahren nicht nur harter Arbeit und vor allem einem besonderen Führungsstil ist es gelungen, das Ruder herumzureißen. Thyssenkrupp Presta Schönebeck ist ein Garant in der großen Unternehmsstruktur des Essener Konzerns, ein äußerst beliebter Arbeitgeber, zu dem Fachkräfte der Region gern wechseln. Es ist die Menschlichkeit, die in den Schönebecker Fertigungshallen spürbar ist, und ein Chef, der keine Scheu hat, aus seinem Büro in der zweiten Etage mal wieder ganz nach unten zu gehen und mit den Kollegen auf Augenhöhe zu sprechen.

Doch jetzt wird Sascha Singer Thyssenkrupp Presta Schönebeck verlassen: Gestern hat er seinen letzten Arbeitstag gehabt, heute geht er nach Eschen in Liechtenstein zur Thyssenkrupp Presta AG, in jenes Land, das insgesamt gerade einmal so viele Einwohner wie die Stadt Schönebeck hat und wo die beispiellose Karriere von Sascha Singer beginnt. Denn an geografischen Wendepunkten mangelt es im Leben des Österreichers nämlich nicht.

Es ist ein Werdegang wie aus dem Bilderbuch. Schon früh interessiert sich Sascha Singer für Motoren. „Mein Wunsch war es immer, Maschinen für die Formel 1 zu bauen“, berichtet er der Volksstimme in einem einmaligen Gespräch, das wegen Singers Bescheidenheit und Zurückhaltung einen echten Seltenheitswert hat. Motoren, Autos, Lenkräder – diese Liebe zur Technik bringt den Maschinenbau-Studenten dazu, bei Thyssenkrupp in Liechtenstein vorzusprechen und um eine Praktikumsstelle zu bitten. „Das war damals schon ein cooles Unternehmen“, so Singer, der angenommen wird und schnell die besondere Unternehmenskultur zu spüren bekommt: Trotz der Hierarchien duzen sich die Mitarbeiter und pflegen einen offen und ehrlichen Umgang miteinander. Diese erste Etappe in dem Unternehmen, das später sein berufliches Zuhause wird, prägen den jungen Studenten bis heute.

Auch bei Thyssenkrupp in Liechtenstein müssen die Verantwortlichen Singers Qualitäten schnell gesehen haben, den Rohdiamanten, der nur noch geschliffen werden muss. Nach und nach geben sie ihm nicht nur mehr Arbeit, sondern auch mehr Verantwortung. „Schon nach einem Jahr bin ich zu Kunden gefahren, ich hatte freie Hand“, erinnert sich Sascha Singer.

Von dem Ansatz in manchen Chefetagen: „Ich schicke meine besten Mann, ich schicke mich selbst“, ist Thyssenkrupp Presta weit entfernt. Bis heute hat Singer diese Philosophie für sich selbst verinnerlicht. Auf seinen vielen Stationen durch die Welt bis nach Schönebeck hält er daran fest. Er hat die Gabe, Menschen zuzuhören, Verantwortung abzugeben und sieht so Talente in Mitarbeitern wachsen, die zuvor unscheinbar sind.

Nach Liechtenstein hat es den Österreicher weiter ins Ausland gezogen. Seine nächste Station ist Florange (Frankreich), bis Thyssenkrupp entscheidet, ein Werk in Osteuropa aufzubauen. „Das fand ich total spannend“, erzählt er noch heute voller Abenteuerlust. Auf dem Weg dorthin im Flugzeug kommt die Anfrage, ob er vielleicht nicht noch weiter in Richtung Osten gehen würde: nach China. In Changchun in der Mandschurei, von wo aus Pjöngjang näher liegt als Peking, braucht Thyssenkrupp einen Produktionsleiter. Sascha Singer sagt zu und geht in ein fremdes Land, das er zuvor nur als Tourist auf einer kurzen Reise kennenlernt. „Ich war neugierig darauf und wollte etwas erleben“, begründet er das Wagnis.

„Die Leute dort waren sehr herzlich und wissbegierig. Sie haben alles technische Wissen wie ein Schwamm aufgesaugt“, schwärmt Sascha Singer noch heute. Kein Wunder, denn das Reich der Mitte befindet sich zu jener Zeit an der Schwelle vom Bauern- zum Industrieland.

So vergehen die Tage, Wochen, Monate und Jahre in Changchun, wo es im Winter schon mal mit minus 20 Grad Celsius bitterkalt werden kann. Aber für den Österreicher ist das ein Gefühl von Heimat. „In den nahen Bergen sind wir im Winter häufig Ski gefahren“, erzählt er.

Sascha Singer arrangiert sich und kommt mit der chinesischen Kultur zurecht. Er hat ein Händchen im Umgang mit Menschen, was auch bei der Konzernleitung nicht verborgen bleibt. Nach vier Jahren wartet die nächste große Veränderung: In der Nähe von Shanghai will das Unternehmen ein neues Werk aufbauen und überträgt Sascha Singer diese Herausforderung: vom Finden des strategisch gelegenen Grundstücks bis zum Errichten des Werkes. Es gelingt und noch heute arbeitet das Werk dort nach Standards, die weltweit für Thyssenkrupp gelten: europäische Qualität, aber „Made in China“.

Es vergehen wieder Wochen und Monate. Nach vier Jahren Shanghai bekommt Sascha Singer einen Anruf. „Wir brauchen dich in Schönebeck.“ In Schönebeck? Ausgerechnet Schönebeck? Shanghai – Schönebeck: War der Kulturschock nicht schon groß genug, nach China zu gehen, muss er nun von einer pulsierenden Millionenmetropole, wo Menschen und Autos 24 Stunden am Tag gleichermaßen nie zur Ruhe kommen, in die deutschen Provinz wechseln – in eine Stadt, die er nur vom Hörensagen kennt, und in ein Werk, das eine echte Aufgabe darstellt. Zumindest seine Heimat Österreich ist nun besser zu erreichen.

Nach acht Jahren China nimmt Sascha Singer Dinge vom Yangtze-Fluss mit an die Elbe, was Manager ansonsten in trockenen Seminaren lernen können. „Ich war in China einem täglichen Lernprozess ausgesetzt“, blickt der damalige Operations-Leiter zurück. Eine Erfahrung ist unter anderem, dass die eigenen Erfolge davon abhängen, wie man mit seinen Mitarbeitern umgeht.

Als er mit seiner Frau in Magdeburg und Schönebeck an einem Sonntag ankommt, wirken beide Städte im Vergleich zu Chinas Megacitys wie ausgestorben. „Schönebeck ist am Anfang schon ein wenig gewöhnungsbedürftig gewesen“, weiß Sascha Singer noch. Aber wie immer bei seinen beruflichen Station um den halben Globus steckt er seine Energie in die Arbeit. Er schaut in Schönebeck nicht zurück und verschwendet seine Kraft nicht in die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern sucht nach Lösungen. Dabei kommen ihm sein Charme und seine Erfahrung zugute. Mit der Zeit kann er mit seiner Ruhe und Zuverlässigkeit die Menschen in Schönebeck begeistern und verlorenes Vertrauen zurückgewinnen. Heute sagt Sascha Singer, dass er in der Elbestadt tolle Mitarbeiter hat.

In seiner Zeit als Werkleiter werden 100 Millionen Euro investiert. Ihm gelingt es, das eigene Haus im Gefüge des Großkonzerns neu auszurichten, und er gibt Thyssenkrupp wieder von dem alten Glanz in der Industriestadt Schönebeck zurück. Sascha Singer lebt die Wertschätzung seiner Mitarbeiter, die er im gleichen Maß zurückbekommt. Sie sagen, dass er dazugehört und nicht einer „von da oben“ ist.

Fast schon legendär ist das soziale Engagement von Thyssenkrupp in Schönebeck. Geldpreise, die das Unternehmen intern gewinnt, werden in Schönebeck verteilt. Bei Familien- festen mit der Belegschaft sind nicht nur die Angestellten eingeladen, sondern ebenso deren Familien. Thyssenkrupp Presta Schönebeck ist nach fünf Jahren Singer wieder eine Familie geworden. Und so fällt es dem Chef nun schwer, die Magdeburger Börde zu verlassen und nach Liechtenstein zu gehen.

Shanghai, Schönebeck, Eschen – die Arbeitsstädte von Sascha Singer werden kleiner, aber die Aufgaben immer größer. Für den 40-Jährigen schließt sich der Kreis nun: Dort, wo er als Praktikant vor rund 20 Jahren begann, wird er Chief Operating Officer (COO) – Manager, der das operative Geschäft für Lenkgetriebe leitet. Er beerbt in dem kleinen Fürstentum im Übrigen seinen Vorgesetzten, der ihn vor vielen Jahren eingestellt hat. Singer wird nun Verantwortung für alle Thyssenkrupp-Lenkungswerke tragen, in China, Mexiko und anderswo. Auch für das Werk in Schönebeck. Der jetzige Abschied von der Elbe ist also nicht für immer. Das ist die gute Nachricht.