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Ein Tag als Hebamme: Ganz nah dran am Leben

Volksstimme-Mitarbeiterin Nora Stuhr schnuppert heute in Staßfurt in den Beruf der Hebamme.

31.07.2018, 06:00

Staßfurt l Ich freue mich, dass ich Claudia Grenzau in ihrer Praxis, die sie sich mit einer Kollegin in Staßfurt teilt, treffen kann. Es ist 9 Uhr am Morgen und es ist ein Wiedersehen. Ich hatte mich im Dezember vor zwei Jahren von ihr das zweite Mal verabschiedet, als ich mit unserer jüngsten Tochter den abschließenden Kurs einer Babygymnastik besuchte. Heute tausche ich die Rolle. Ich sehe mich quasi als Helferin im Kurs an ihrer Seite und ich kann ihr dabei noch Fragen stellen, darüber, wie sie zu ihrem Beruf kam, wann das war und wie alles angefangen hat, was dazu gehört und wie sie das alles schafft.

Bevor sich die Tür öffnet und die ersten Mütter erwartet werden, haben wir ein bisschen Zeit. Noch steht keine Babyschale nebenan, dass soll sich in Kürze ändern. Etliche Tragen werden sich bald einreihen, denke ich mir, weil ich weiß, wie dankbar das Angebot der Beratung regelmäßig angenommen wird. Doch an diesem Tag bleibt es bisher ungewohnt ruhig. Mehr Zeit zum Erzählen.

Wir sitzen in der kleinen Küche. An der Wand hängen unzählige Fotos und kleine Geschenke, Fußabdrücke, Hände. Zu lesen sind Worte der Dankbarkeit und Wertschätzung. Das alles gilt der Arbeit der Hebammen, die hier alles geben.

Claudia und ihre Kollegin sind sogenannte Beleghebammen. Das sind freiberufliche Hebammen, die Schwangere vor der Geburt, dabei und danach begleiten. Das heißt, wenn das Telefon klingelt, könnte es sein, dass die Frauen alles stehen und liegen lassen, um in die Klinik zur werdenden Mutter zu fahren. Für die Frauen ergibt sich der Vorteil, eine schon vertraute Person im Kreißsaal an ihrer Seite zu haben. Die Hebammen wiederum stehen am Tag und in der Nacht auf Abruf bereit. Ihr Beruf kennt bis auf die Zeit des Urlaubs, wenn das Handy nicht an ist, keinen Feierabend. Es kann immer etwas dazwischen kommen. Private Feiern, Geburtstage, selbst der eigene, sind nicht planbar.

Ich erfahre, was ich mir denken kann. Die Familie muss hinter einem stehen, wenn man sich für diesen Beruf entscheidet. Hebammen, die ich hier in Staßfurt treffe, sind auch echte Manager.

Um mir vorzustellen, wie ihr Tagesablauf aussieht, darf ich einen kurzen Blick auf den vollen Kalender im Handy werfen. Von 8.30 Uhr bis 20 Uhr ist die Hebamme ausgeplant. Hausbesuche zur Nachsorge stehen an. Das Einzugsgebiet umfasst den gesamten Salzlandkreis und Magdeburg. Im Kalender gibt es weiter feste Zeiten für Kurse, die die Hebammen anbieten: Geburtsvorbereitung für die Eltern, Babymassage für die ganz Kleinen, Babygymnastik danach, Rückbildung für alle Mütter, damit der Bauch wieder kleiner wird.

Diese Angebote sind für alle, die betreut werden, offen. Das heißt, an einem Tag sind drei Mütter mit ihren Babys dabei, an einem anderen Tag können es bis zu sieben Frauen mit Kindern – manchmal kommen auch die Geschwister mit – sein. Bevor ein Kurs beginnt, klingelt das Handy der Hebamme nicht selten. Sie empfiehlt ihren Frauen, vorher anzurufen, denn es kann sein, dass der Kurs ausfallen muss, eben wenn der Kreißsaal ruft.

Doch in der Zeit, in der ich dabei bin, melden sich keine Wehen an. Das Telefon klingelt aber trotzdem. Ein werdender Vater erkundigt sich, sucht Hilfe, seine Frau steht noch am Anfang der Schwangerschaft. Die Klinik hat sie entlassen. Übelkeit lässt aber nicht nach. Claudia Grenzau plant die werdende Familie für einen Hausbesuch am Nachmittag ein.

Hebammen und Homöopathie das ist untrennbar. Denn die Schwangeren müssen zum Schutz des Kindes oftmals auf Medikamente der Schulmedizin verzichten. Hier eine Akupunkturnadel gegen Kopfschmerzen oder Übelkeit, selbst im Kreißsaal werden Globuli – das sind kleine Kügelchen mit für mich rätselhaftem Inhalt aus der Natur – gereicht. Die Psyche spielt immer mit, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, aber für die erfahrenen Frauen ist es ganz sicher ein Mittel zum Zweck. Das kann nicht immer helfen. Es gibt Grenzen, dann müssen Ärzte einschreiten und sie sind als Partner immer im Boot, erfahre ich.

Claudia Grenzau hat während ihrer gesamten Tätigkeit als Hebamme seit 1981 alles in allem 2182 Geburten betreut. Sie kann das genau sagen. In einem Ordner daheim hat sie in Erinnerung jede Geburt dokumentiert. Auch die kleinen Zeitungsartikel der Kinder, denen sie geholfen hat, das Licht der Welt zu erblicken, sind ausgeschnitten und abgeheftet. Daher hat sie alle Zahlen und Namen parat. Natürlich kann sie sich an die erste Geburt, bei der sie während ihrer Ausbildung im Staßfurter Krankenhaus am 1. Dezember 1980 dabei war, erinnern und sie erzählt, dass der kleine Junge Steven hieß.

Ich muss schmunzeln und bin begeistert, denn ich habe eine Freundin, die Claudia Grenzau als Hebamme während der Geburt ihrer Tochter 2012 an ihrer Seite hatte. Außerdem hat ihre Mutter die Schwester meiner Freundin bei ihr in den 1980er Jahren entbunden. Das klingt kompliziert. Aber so wird deutlich, dass der Beruf über Jahre Generationen irgendwie auch ein Stück weit verbindet.

Als ich das Beispiel anspreche, erzählt mir Claudia Grenzau, dass sie jetzt zum Teil Mütter betreut, deren Mütter sie auch schon aus dem Kreißsaal kennt.

Trotzdem, wie jedes Kind, ist auch jede Geburt anders. Und nicht nur das Adrenalin in den Adern der Mütter und Väter schnellt in die Höhe, wenn all der unvorstellbare Schmerz der vergangenen Stunden von jetzt auf gleich verfliegt, auch die Helfer an der Seite der Eltern müssen sich danach so ähnlich fühlen.

Zirka zwei Stunden kann der Zustand, wenn das Baby da ist, auch für sie anhalten, höre ich. Und ich spüre, es ist ein Beruf, ganz nah dran am Leben. Läuft alles gut, ist das Kind gesund, ist es auch für eine Hebamme „das tollste Erlebnis und ein unbeschreibliches Gefühl.“ Aber ich weiß, dass das nicht immer so sein kann. Komplikationen und Gegebenheiten, die für betroffene Eltern mit unsagbar viel Leid verbunden sein können, weil das Kind viel zu früh geboren wird, krank ist oder im schlimmsten Fall nicht lebend geboren werden kann, sind nicht die Regel.

Aber der Umstand, dass eine Schwangerschaft oder Geburt mit schweren Schicksalsschlägen einher gehen kann, soll nicht unerwähnt bleiben, wenn man über den Beruf schreibt und ich spreche Claudia Grenzau darauf an, wie sie persönlich mit solchen Erfahrungen umgeht, wenn die Natur die Regeln bestimmt, die Medizin an ihre Grenzen stößt und niemand Einfluss nehmen kann. Dann muss sie gestehen, kann sie daheim auch nicht abschalten. Aber sie unterliegt der Schweigepflicht. Man müsse das dann so akzeptieren, anders würde es auch nicht funktionieren.

Dann kommen wir wieder auf den Rückhalt aus der Familie zu sprechen. Meine Hebamme hat selbst zwei Kinder und sie erinnert sich zurück an die Zeit als ihre heute 30-Jährige Tochter und der Sohn (34) klein waren. Sie arbeitete weiter in ihrem Beruf als Hebamme, Mitte der 1980er Jahre. Ohne die Unterstützung der Eltern wäre das gar nicht möglich gewesen, kann sie mit Sicherheit sagen.

Claudia Grenzau wusste von Anfang an, dass sie Hebamme werden wollte. 1981 hatte sie ihren Abschluss nach einer einjährigen Zusatzausbildung in der Tasche. Vorher absolvierte die damals 18-Jährige eine Lehre zur Krankenschwester an der Fachschule in Tangermünde. Viele weitere Fortbildungen folgten.

Unser Gespräch hat sich mittlerweile in den Übungsraum der Praxis verlagert. Der zweite Kurs der Babygymnastik läuft bereits. Aus den Lautsprechern erklingen bekannte Töne. Die Kinderlieder kenne ich noch als ich mit unseren Töchtern trainierte. Heute darf ich mit Übungspuppe Lisa mitmachen. Claudia Grenzau zeigt die Übungen und Julius (7 Monate), Emil (10 Monate und Rocco (8 Monate) sind sichtlich begeistert dabei, die Beine in die Luft zu schlenkern, als ihre Mütter sie nach vorn heben. Das ist für die Frauen gleichzeitig auch ein kleines Krafttraining und Abwechslung zugleich. Danach werden die Kinder gewogen und gemessen. Die Mütter haben Fragen zur Ernährung. Es gibt hilfreiche Tipps, was gegen die schubartigen Schmerzen hilft, wenn die Babys in der Nacht aufwachen, weil die Zähnchen wachsen. Danach sind die Kinder sichtlich platt, meist schlafen sie auf der Heimfahrt ein. Für die Hebamme geht es munter weiter. Schnell umziehen und zum ersten Hausbesuch des Tages. Mittlerweile knurrt mein Magen. Darauf angesprochen, wann Claudia Grenzau isst, meint sie, dass ihr eine Schnitte unterwegs reicht. Die bleibt aber weiter eingewickelt. Wir treffen eine frisch gebackene Mutter, die am Tag zuvor aus der Klinik entlassen wurde. Ihr kleiner Sohn, wenige Tage jung, schläft friedlich auf einem Stillkissen auf dem Sofa. Er muckert kaum, als er gewogen und vermessen wird. Vorher spricht Claudia Grenzau alle medizinischen Dinge mit der Mama ab, geht mit ihr den gelben Gesundheitspass des Kindes langsam und Schritt für Schritt durch. Sie erklärt ihr, dass sie viel rote Säfte trinken soll. Nüsse sind gut. Die beiden reden über viele weitere Dinge: die Ernährung, das Stillen, das Schlafen. Ich verabschiede mich und schleiche aus der Wohnung. So macht das Claudia Grenzau auch immer. Ich weiß, dass die Kinder meist wieder ganz friedlich sind, wenn die Hebamme das Haus verlässt. Sie hat immer prima Tipps parat, wie das funktioniert. Das Geräusch eines Föns kann etwa beruhigen, wenn gar nichts mehr geht. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Bei uns lief das Gerät manchmal sogar während der Mahlzeiten, damit wir essen konnten. Und im Gespräch mit Müttern habe ich erfahren, dass es sogar CDs gibt, die mit solchen Geräuschen für Babys bespielt sind: Vom Geschirrspüler bis zur Waschmaschine ist alles dabei.

Doch zurück zum Beruf der Hebamme. Mir wird berichtet, dass es immer weniger Beleghebammen gibt. Claudia Grenzau, die bis vor einiger Zeit viele Jahre lang auch Hausgeburten betreute, begleitet Entbindungen heute hauptsächlich im Marienstift in Magdeburg, arbeitet aber auch in Aschersleben in der Klinik. Die Zahl der Beleghebammen hält sich heute in Grenzen, immer weniger Kolleginnen, die dasselbe machen, seien nachgerückt. Vielleicht liege das daran, dass es gerade für junge Frauen schwierig sei, diesen Beruf und die eigene Familie unter einen Hut zu bringen, schätzen wir. Und wieder wird deutlich, dass der Job wohl kein Beruf, sondern eine Berufung sein muss.

Hebammen unterstützen den natürlichen Verlauf von Schwangerschaft und Geburt. Wer als Hebamme arbeitet, muss voll darin aufgehen, ein Organisationstalent sein, Einfühlungsvermögen habe, die Fähigkeit besitzen, beruhigend zu sein und gleichzeitig motivieren. Ich ziehe meinen Hut vor den Hebammen und ihrer Arbeit. Wer dazu noch freiberuflich ist, kennt – bis auf den Urlaub – an sieben Tagen in der Woche, auch nachts, wenn nötig, keinen sicheren Feierabend. Irgendwie ist der Tag komplett geplant. Und das muss er auch sein, denn von jetzt auf gleich kann sich alles ändern. Hebammen müssen improvisieren können, mit wenig Schlaf auskommen, trotzdem gut drauf und dabei noch flexibel sein.

Die nächste Folge der Sommerserie erscheint am 2. August: Polizeiausbilderin. Bereits erschienen: Mitarbeiterin der Leitstelle, Tierpflegerin, Zustellerin, Mitarbeiter Stadtpflegebetrieb, Fährhelfer, Bürgermeister, Regieassistent, Müllmann und Sozialarbeiter. Nachzulesen auf www.volksstimme.de.