Autismus Totales Chaos im Kopf

Eltern von autistischen Kindern müssen das Leben für ihre und mit ihren Kindern meistern. Das musste auch Karina Gyhra aus Stendal lernen.

Von Egmar Gebert 17.09.2017, 01:01

Stendal l Was man dem Film „Rain Man“ zugute halten kann: Mit ihm rückte das Thema Autismus kurzzeitig in den Fokus der Öffentlichkeit. Mehr allerdings auch nicht. Ungeachtet der schauspielerisch tollen Leistung von Dustin Hoffman hat die Figur höchstens autistische Züge, mit dem realen Leben eines Autisten und der Menschen in seinem Umfeld aber nur sehr wenig zu tun.

Die Frau, die das sagt, weiß wovon sie spricht. Karina Gyhra ist Mutter dreier Kinder, zwei von ihnen, die beiden 15- und 9-jährigen Jungen, sind Autisten. „Autismus ist ein sehr komplexes Krankheitsbild. Alle Autisten sind unterschiedlich, so verschieden wie schwarz und weiß. Der eine kann Gefühle zeigen, der andere nicht. Der eine kann körperliche Nähe nicht ertragen, für den anderen ist Blickkontakt zu anderen Menschen nicht möglich. Empathie ist schwierig, aber möglich“, weiß die Stendalerin aus Erfahrung, auch aus schmerzlicher, die sie allerdings weniger mit ihren beiden Söhnen machte, als mit der Gesellschaft, mit Menschen, die nicht mit dieser Krankheit umgehen können.

„Meine Jungen haben, grob gesagt, emotionale und soziale Defizite. Man sieht ihnen die Krankheit nicht an“, bringt Karina Gyhra auf den Punkt, was in Momenten, wenn sich die Krankheit zeigt, immer wieder zu Unverständnis bei Umstehenden, ja zu Konflikt- situationen mit ihnen führt. Ein Problem des Autisten sei, dass sein Gehirn Reize, zum Beispiel Geräusche, nicht filtern kann. Gesprächsfetzen, Vogelzwitschern, eine Tür klappt, das Ticken einer Uhr, ein vorbeifahrendes Auto – alles geschieht gleichzeitig. Was davon ist wichtig, was nicht? Durch sein Krankheitsbild kann der Autist es nicht auseinanderhalten, nicht eine Minute des Tages. Eine totale Reizüberflutung, ein Chaos im Kopf, mit dem der Autist umgehen, das er irgendwie beherrschen muss. „Es ist unglaublich, was diese Kinder ertragen können“, zollt sie ihren beiden Söhnen höchsten Respekt.

Diese Reizüberflutung, die auch durch viele andere, dicht aufeinander folgende Eindrücke entstehen kann, führt zu einem Stau, dem „Overload“, der sich irgendwann entlädt, entladen muss. Unkontrolliertes Schimpfen, das Zuhalten der Ohren, nicht enden wollendes Schütteln des Kopfes, sind „eigentlich nichts anders als ein Hilfeschrei des völlig überforderten Kindes“, sagt die Mutter.

Danach – so erlebt sie es bei ihrem älteren Sohn – völlige Niedergeschlagenheit, ein In-sich-Zurückziehen, abschalten. „Das kann eine Stunde dauern oder auch einen ganzen Tag“, schildert Karina Gyhra das, was man „Shutdown“ nennt.

Beim jüngeren ihrer Söhne läuft die Sache ganz anders ab. Die Reizüberflutung kann bei ihm einen Meltdown auslösen. Ein Zustand, der mit dem deutschen Wort „Kernschmelze“ übersetzt wird. Sie löst Aggressionen aus. Sich selbst ins Gesicht oder mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, treten, schreien, beißen. „In dieser Situation kannst du nichts tun, nur darauf achten, dass sich dein Kind nicht selbst verletzt.“ Karina Gyhra greift eines von vielen Beispielen heraus, die sie in den Jahren erlebt hat:

Sie versuchte mit ihrem jüngeren Sohn den Besuch in einem Einkaufsmarkt zu trainieren. Obwohl fast menschenleer und ruhig, ohne im Hintergrund dudelnde Musik, gab es auch dort zu viele Reize für den Jungen. Draußen, vor dem Geschäft, der Zusammenbruch, der Meltdown, wie ein komplettes Ausrasten. Irgendwann saß sie mit dem Jungen im Auto, fuhr nach Hause. Wenig später klingelt die Polizei an der Tür, will prüfen, ob sie den Jungen eventuell entführt hatte. Passanten, die die Situation auf dem Parkplatz beobachtet hatten und nicht einordnen konnten, hatten sich Karina Gyhras Autonummer notiert und die Polizei alarmiert. „Das ist kein Vorwurf an diese Leute. Aber auch so etwas musst du als Mutter aushalten lernen.“

Weil Karina Gyhra weiß, wie schwer das ist, hat sie sich mit anderen Eltern, die sie in einer Autismus-Ambulanz kennenlernte, zusammengeschlossen. Der Austausch unter einander helfe, sagt sie. Der eine hat diese Situation erlebt, weiß damit umzugehen. Der zweite hat Erfahrungen im Umgang mit Behörden, weiß wo Ansprechpartner zu finden, welche Wege sinnvoll sind, welche nicht. Oder eben nur die Gespräche miteinander, die die Gruppe und jeden Einzelnen in ihr stark machen.

Diese Stärke zu entwickeln oder zumindest erst einmal des Gefühl, mit all diesen Problemen nicht allein zu sein, Wege aufgezeigt zu bekommen, wie man den Alltag mit einem Autisten gestalten kann, das möchte Karina Gyhra möglichst vielen Betroffenen ermöglichen. „Eltern, die die Diagnose Autismus für ihr Kind bekommen, haben tausend Fragen und erst einmal keine Antworten“, weiß die Stendalerin aus eigenem, fast ohnmächtigen Erleben.

Weil sie aber in den vergangenen Jahren viele Antworten gefunden hat, führt sie ihr Weg nun zu Bärbel Riep, die beim Paritätischen in der Altmark die Arbeit von Selbsthilfegruppen koordiniert, unterstützt, und bei der Gründung helfen kann. Das wird Bärbel Riep auch für die Eltern von Autisten im Landkreis Stendal tun. Wer an der Gründung der Selbsthilfegruppe „Autismus - Landkreis Stendal“ interessiert ist – auch die Gründung einer Gruppe mit erwachsenen Autisten ist möglich – kann sich ab dem 25. September bei Bärbel Riep melden.

 

Kontakt ab Montag, 25. September möglich. E-Mail-Adresse: briep@paritaet-lsa.de.