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Blinde Gelesen wird mit Funk und Finger

Heute ist bundesweiter Vorlesetag - doch wie lesen Blinde? Annemarie Kock aus Stendal erzählt von den technischen Möglichkeiten.

Von Nora Knappe 16.11.2018, 00:01

Stendal l In einem Buchladen wird man Annemarie Kock eher selten antreffen. Sie könnte dort zwar den Geruch von Papier und Druckfarbe einsaugen, und sie könnte auch mit den Fingern über die Buchrücken streifen, könnte darin blättern. Aber in eines der Bücher mal reinlesen – das könnte Annemarie Kock nicht. Denn die 31-Jährige ist von Geburt an blind. Und doch liest sie gern, „alles querbeet, Krimis, Romane, Autobiografien, Psychothriller“, hat ihre Lieblingsautoren wie Hape Kerkeling, Paulo Coelho oder Jodi Picoult.

Und ja, sie sagt „lesen“. Die Augen sind dabei unbeteiligt, umso mehr sind die Fingerkuppen gefragt. Dass Blinde lesen können, verdanken sie zunächst einmal Louis Braille, der 1825 die später nach ihm benannte Sechs-Punkt-Schrift erfand. Und sie verdanken es gewissen technischen Erfindungen wie Internet und Smartphone – in Kombination mit der sogenannten Braillezeile, einem speziellen Hilfsgerät, das über Bluetooth mit Computer oder Handy verbunden wird und Dokumente über eine Tastleiste lesbar macht. Annemarie Kock nennt sie einfach nur: die Zeile.

Und so, per Handy, kommt sie auch an Bücher: „Die lade ich mir im iBooks-Store runter“, erklärt Kock, die seit Mai dieses Jahres die Stendaler Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte leitet. Da findet sie fast alles. Ein Buch aber bleibt bislang Wunschlektüre: „Ich möchte unbedingt ‚Sehnsucher‘ von Juliane Werding lesen, aber das gibt es nicht im iBook-Store.“

Dennoch: Was das Lesen betrifft, ist für Blinde im wahrsten Wortsinne eine Erleichterung eingetreten: „Früher war man darauf angewiesen, dass ein Buch in Brailleschrift gedruckt wurde. Wenn ich dann mal einen Roman bestellt habe, bestand der aus mehreren Büchern. Da wurden dann sechs riesige Koffer geliefert.“ Sagt‘s und lacht bei dem Gedanken daran, wie sich die Nachbarn wohl gefreut haben müssen, wenn sie mal solch üppige Lieferung annahmen. Einscannen war eine andere Möglichkeit, wenngleich sehr aufwendig. So konnte sie sich im Studium immerhin Fachliteratur erschließen.

Die Technik hilft ihr übrigens auch, wenn sie SMS oder Mails bekommt: „Mein Telefon liest mir SMS vor, ich kann sie selbst auch einsprechen oder über die Braillezeile eingeben.“

Und wie sieht es mit Zeitungen und Zeitschriften aus? „Die lese ich gar nicht so sehr, nur die Online-Angebote. Ich höre außerdem viel Radio.“

Hören – das ist ohnehin die Möglichkeit für Blinde und Sehbehinderte, sich Lektüre zu Gemüte zu führen. „Wer die Brailleschrift nicht beherrscht, kann sich über Sprachsoftware Dokumente oder Bücher vorlesen lassen“, erklärt Kock. Und nicht zuletzt gibt es ja Hörbücher.

Ein spezielles Angebot hält die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB) in Leipzig vor: Zeitschriften, Belletristik, Fachbücher, extra eingelesene Bücher zum Anhören und Notenliteratur.

Bei allem technischen Fortschritt und der damit größeren Freiheit und Selbstständigkeit – Einschränkungen gibt es dennoch: Illustrationen, Grafiken und Bilder bleiben Blinden verborgen. „Auf der Zeile kann man nur Text lesen, Fotos erkennt sie nicht.“ Auf Facebook aber beispielsweise würden Fotos mittlerweile erklärt. „Man kann Fotos auch nicht einfach einscannen, da einem dann ein Buchstaben- und Zeichensalat vorgelesen wird“, sagt Kock, die das gelassen nimmt. So wie die Tatsache, dass sie, wenn sie unterwegs ist, sich öfter durchfragen muss als Sehende. Denn Straßenschilder, Orientierungspläne oder Wegweiser haben für sie keine Relevanz. Aber auch hier kann die Technik helfen: „Es gibt Apps, mit denen man über die Kamera Schilder lesen kann.“

In Berlin, wo Annemarie Kock die weiterführende Schule bis zum Abitur besucht hat, hat sie im Übrigen Restaurants ausfindig gemacht, die die Speisekarte sogar in Braille-Schrift haben. „Das funktioniert natürlich nur in Metropolen, das lohnt sich in Städten wie Stendal ja gar nicht.“

Aber Annemarie Kock scheut das Fragen nicht – es gehört genauso zu ihrem Leben wie die Technik und das Lesen. „Lesen kann so schön sein!“ Und natürlich sei das bei Blinden nicht anders als bei Sehenden: „Ob Eltern ihren Kindern vorlesen, hängt nicht so sehr vom technisch Möglichen ab, sondern davon, ob die Eltern selbst vorgelesen bekommen haben.“