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Mit dem Mauerbau begann das Ende der Karriere von Hans-Dieter Neidel Ein Boxer wird zum ewig Unangepassten

Von Frank Eckert 12.08.2011, 04:34

Morgen jährt sich zum 50. Mal der Tag des Mauerbaus in Berlin. Der einstige Stendaler Boxer Hans-Dieter Neidel (72) geriet früh mit der DDR aneinander; er wollte sich nie anpassen, sondern eines Tages die Mauer überwinden. Irgendwann gelang es ihm.

Stendal. "Ich bin dann mal weg." Das Copyright auf diesen deutschlandweit durch Hape Kerkelings Rucksack-Buch bekannten Satz beansprucht der Stendaler Hans-Dieter Neidel für sich. So viel Selbstbewusstsein darf sein. Denn irgendwann im Februar 1987 hat der heute 72-Jährige diesen Spruch zu seinen Freunden in Berlin gesagt; weit vor einem Kerkeling. Am Tag darauf war er im Westen der Stadt. So ist er immer; ein wenig verwegen, kurz und bündig, stets mit einem leichten Augenzwinkern, mit einer himmelschreienden Ironie. Das sagen seine Freunde über ihn, Hans-Dieter Neidel habe es kurzum faustdick hinter den Ohren gehabt; und er hat es immer noch. Das ist sein Lebenselixier. Sein Jacobsweg, um es mit der Ulknudel Hape Kerkeling aufzunehmen.

Seit jenen Wintertagen vor 24 Jahren lebt er in Minden, in Ostwestfalen. Dieser gediegene Landstrich wurde zu seiner zweiten Heimat; unterworfen hat er sich dort genauso wenig wie hier. Er möge sich doch endlich mal anpassen nach so langer Zeit, laute ein häufiger Vorwurf heute, sagt er. Wenn Neidel etwas nicht kann, dann genau das. Er bleibt der ewig Unangepasste. Der Dickkopf, der er immer war, sonst hätte er nicht Vize-Europameister im Boxen werden können.

Und das genau 1961. Im Jahr des Mauerbaus. Im Juni 2011 feierte Neidel im fernen Minden das Jubiläum seiner Vize-Europameisterschaft unter vielen Freunden. Damals vor 50 Jahren stand er beinahe ganz oben auf dem Treppchen des kontinentalen Boxsports. Nach außen hin für die DDR. Innen in seinem Herzen nur für sich. "Ich kann einfach nicht anders. Ich bin stets und ständig angeeckt", lautet eine weiterer Satz mit neidelschem Copyright-Potenzial. Er konnte nie anders; nie in die Partei, nie zu den Jubelfeiern des 1. Mai, des Geburtstages der DDR an jedem 7.Oktober. Er wollte sich treu bleiben. Er wollte authentisch sein und irgendwann nur noch weg.

Aus Stendal ging das vergleichsweise einfach und recht früh in seiner Jugend. Sein Ziel hieß Mitte der 50er Jahre Schwerin, damals schon die Boxhochburg der DDR. Das ganz große Mekka in der kleinen Republik. Wie stolz ist sein Vater gewesen, der leidenschaftliche Eisenbahner, wenn er den Kollegen von den frühen Boxerfolgen seines Sohnes bei der BSG Einheit und danach bei der BSG Lok Stendal erzählen konnte.

Das sagt Neidel heute wieder und wieder. Der Mutter wie dem Vater bereitete er im privaten Alltag die Freuden, welche im beruflichen eher limitiert auftraten. "Meine Eltern wollten nicht, dass ich aus Stendal weggehe", erinnert sich Neidel heute. Dann solle er doch am besten nie wieder zurückkommen, wenn er jetzt gehe, gaben sie ihm mit auf den Weg Richtung Schwerin. Gerade erst hatte er seine Schornsteinfegerlehre abgeschlossen, seine Meisterprüfung hinter sich gebracht. Und dann geht er einfach so. Schon viel früher als 1987 einfach "dann mal weg".

"Du bleibst ab jetzt hier"

Das war 1957; Neidel blühende 18, nach Sparringseinsätzen gegen weit ältere und größere Kontrahenten hatte er im Ring die Trainingspuppe gemimt und "sie alle umgehauen. Ich bin denen von damals dankbar, dass ich meine Rübe hinhalten durfte." Über die Boxer Heinz Stenzel und Herbert Brattka aus Oebisfelde will Neidel bis heute nur Gutes sagen. Denn eigentlich war er immer der Schmächtige, der am Ring stand und den sie fragten, was er denn hier wolle, er solle in den Kindergarten gehen und nicht zum Boxen. Schon in der Schornsteinfegerlehre sagten sie, sie könnten ihn hier nicht gebrauchen; zu schwächlich, zu schmal. Bis er heimlich das Training zu Hause begann, ein paar Straßen um die Ecke, nicht weit vom Stadtsee entfernt, mit seinem Lehrgesellen "Herrn Beguin", der ihn zuvor "ein ums andere Mal verprügelte". Dann plötzlich sagte er aber: "Du bleibst ab jetzt hier." Richtig was einstecken könne er ja und falle immer noch nicht um. Der frühe Neidel zeigte Tugenden, die ihm später im Leben nützlich sein sollten.

Hans-Dieter Neidel blieb beim Boxen und ging nicht zurück in den Kindergarten. Hier kam der Dickkopf früh aus ihm heraus. Und der führte den jungen Boxer nach zwei Juniorenmeistertiteln 1957 schnurgerade in die nördliche Bezirkshauptstadt Schwerin, und von da war es nur ein kleiner Sprung in die Nationalmannschaft.

Über Neidel hieß es in den Sportmedien der DDR, sowohl im Radio, im Fernsehen oder dem "Deutschen Sportecho" –der Sporttageszeitung: "Überragend" oder "Das war Klasse, Dieter Neidel!" Haushoch sei er in seinen Kämpfen auf internationaler Bühne im Halbmittelgewicht seinen Gegnern überlegen gewesen.

Bis zu seiner ersten Endstation: dem Finale der Europameisterschaften 1961 gegen den sowjetischen Ausnahmeathleten Boris Nikolajewitsch Lagutin – am 10.Juni 1961. Zwei Monate vor dem Mauerbau stand er in Jugoslawiens Hauptstadt Belgrad vor diesem Berg von Mensch, vor dieser Mauer aus Fleisch und Blut und verlor haushoch. In der dritten Runde des Kampfes ging der Stendaler zwar nicht zu Boden, "aber ich war so fix und fertig, dass der Ringrichter den Kampf beenden musste." Eine erste Endstation im steilen Boxer-Leben des Hans-Dieter Neidel. Von nun an stieß er an Grenzen; er wollte die Gewichtsklasse halten, der Klub und "die von ganz oben aus Berlin" wollten, dass er in die Partei ging. Er sagte öffentlich, dass er Westfernsehen gucke, dass er nicht in die Partei gehe. Doch Neidel wusste auch, das ist sein Ende.

In einem Meisterschaftskampf 1964 fühlte er sich verschaukelt; die Niederlage fühlte sich komisch an. Plötzlich war er aus der Nationalmannschaft verschwunden. Keine WM, keine EM, kein Olympia in Tokio. Er hatte es ja nicht anders gewollt. Bei einem Freund in Kühlungsborn tauchte er in dieser Zeit unter; Neidel flüchtete vor dem Klub, flüchtete vor der NVA, vor dem Staat, der ihn zum Boxer machte. Sein eigentliches Ziel aber war Berlin, war die Mauer, weil er rüber und die Mauer hinter sich lassen wollte. Dank einer Scheinehe gelang ihm der Eintritt in die DDR-Hauptstadt ganz nah ran an die Mauer – Neidels Finte im realen Leben. Sie sollte nicht die letzte bleiben.

Von nun an genoss der boxerische Linksausleger das Leben in der DDR-Hauptstadt und lebte es neben seinen Berliner Kehrbezirken als Türsteher am Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz. Seine Statur flößte beim Publikum Respekt ein; er flirtete gern mit den jungen Damen, fand so viele Freunde. Die Begegnung mit einem von ihnen verschaffte ihm Anfang der 80er Jahre ein Verhör bei der Stasi. Neidel kannte aus deren Sicht die falschen Freunde. Was wiederum hieß, die Stasi wurde nicht Neidels Freund. 1984 stellte er den ersten Ausreiseantrag, 1985 einen zweiten. Beide wurden abgelehnt. Bei der Ausreisestelle erhielt er Hausverbot. Und die Repressalien nahmen zu. Wegen fadenscheiniger Vorwürfe verlor er seinen Kehrbezirk.

Die DDR wollte ihn loswerden. Nur gehen lassen wollten sie ihn nicht. Also ging er – an einem Februartag 1987. Wie, das verrät er bis heute nicht. Nur so viel: Es war eine Finte; dann war der Stendaler Vize-Boxeuropameister von 1961 drüben. Dann war er mal weg.