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Gericht Zwei Prozesse durch Stendaler Arbeitsstreit

Der Angeklagte soll von seinem Arbeitgeber 100 Euro gestohlen haben. Aber hat er nur das zurückgenommen, was eigentlich ihm gehört?

Von Wolfgang Biermann 23.06.2020, 07:00

Stendal l Seinem Chef 100 Euro gestohlen zu haben, wurde einem nicht vorbestraften Berufskraftfahrer zur Last gelegt. Der Endfünfziger soll in der Wohnung seines Arbeitgebers „in einem unbeobachteten Moment 100 Euro vom Stubentisch genommen haben“. Nach Anhörung des seine Unschuld beteuernden Angeklagten und des vermeintlichen Diebstahlopfers vor dem Amtsgericht in Stendal konnte die angebliche Geldwegnahme jedoch nicht aufgeklärt werden. Ein Fortsetzungstermin müsste anberaumt und weitere Zeugen vernommen werden, hieß es. Ob damit allerdings der angeklagte Diebstahl nachgewiesen werden könne, sei fraglich, denn direkte Tatzeugen gebe es nicht. Der Aufwand stünde bei der geringen Summe in keinem Verhältnis zum Nutzen. Und so regte der Vorsitzende Richter eine Verfahrenseinstellung an. Die Staatsanwaltschaft gab dazu ihre Zustimmung. Damit war die Sache zumindest vor dem Amtsgericht erledigt.

Vor dem Arbeitsgericht streiten sich der Chef und sein Angestellter aber weiter. Denn mit Erstattung der Strafanzeige hatte der Angeklagte zugleich seine fristlose Kündigung bekommen. Worum geht es. Der Angeklagte gab an, dass er schon seit über einem Jahrzehnt für seinen Arbeitgeber gefahren ist. Als Berufskraftfahrer benötige er in regelmäßigen Abständen in Wochenendlehrgängen zu erwerbende sogenannte Module als Voraussetzung für die Zulassung zum Lkw-Fernverkehr. Fünf an der Zahl. Kosten dafür: jeweils 55 Euro, insgesamt also 275 Euro. In der Vergangenheit hätte der Chef diese Module immer bezahlt, auch für seine Kollegen. Diesmal hätte der Chef die Lehrgangsnachweise trotz mehrfacher Aufforderung nicht herausgerückt und von ihm 275 Euro verlangt. Er hätte sich beim Chef eingefunden und mit ihm verhandelt. 175 Euro hätte er zahlen wollen, der Chef sei aber stur geblieben.

Zähneknirschend hätte er auf 275 Euro erhöht und diese auf den Tisch gelegt. Sein Chef verließ kurzzeitig den Raum, hieß es übereinstimmend. Als er wiedergekommen sei, habe der Angeklagte etwas in die Tasche gesteckt, sagte der Arbeitgeber als Zeuge aus. Sofort will er gesehen haben, dass vom Tisch 100 Euro fehlten. Der Angeklagte habe sich fluchtartig entfernt und er daraufhin die Polizei gerufen.

Der Arbeitgeber hatte seine Zahlungsforderung damit begründet, dass der Angeklagte angeblich bekundet habe, die Firma verlassen zu wollen. Der Arbeitgeber hatte keinen Anspruch auf die 275 Euro, sagte der Vorsitzende Richter, da er „üblicherweise die Kosten übernommen habe“. In dem Moment, als der Angeklagte die 275 Euro „übereignete“, sei eine – nicht erwiesene – Wegnahme von 100 Euro aber tatsächlich Diebstahl.