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Gerichtsprozess Zwei Stendaler ticken wegen Zugverspätung aus

Weil ein Zug nicht weiterfahren konnte, griff ein Pärchen das Zugpersonal an. Das Amtsgericht Stendal verurteilte sie zu Bewährungsstrafen.

Von Wolfgang Biermann 23.08.2018, 11:00

Stendal l Um eine zumindest in unserer Region bislang beispiellose Straftat ging es vor einigen Tagen vor dem Amtsgericht. Die Staatsanwältin sprach gar von einem bevorstehenden Ende der Zivilisation, wenn das Schule macht.

Eine S-Bahn war am 6. September vorigen Jahres gegen 20 Uhr auf ihrer Fahrt von Schönebeck nach Wittenberge mit einem Wildschwein kollidiert und auf dem Bahnhof Eich­stedt fahrunfähig liegengeblieben. Was dann geschah, klingt haarsträubend: Ein junges, zweifach vorbestraftes Stendaler Pärchen geht aus Verärgerung über die Verspätung auf das Zugbegleitpersonal los und attackiert Lokführer und Schaffnerin.

Das Amtsgericht hat die 22-jährige gelernte Verkäuferin nun wegen gefährlicher Körperverletzung zu acht Monaten und ihren Freund, einen 25-jährigen Maurergesellen, zu neun Monaten Gefängnis verurteilt.

Die Haftstrafen für das Paar, das angab, kein Liebespaar zu sein, setzte das Schöffengericht unter Vorsitz von Richterin Petra Ludwig für zwei Jahre zur Bewährung aus. Dazu muss der Angeklagte 1400 Euro ans Stendaler Frauenhaus und die derzeit im Pflegebereich tätige 22-Jährige 1000 Euro an den christlich geprägten Stendaler Verein und Jugendclubträger „Lebendige Steine“ zahlen.

Die Strafe für den 25-Jährigen fiel höher aus, weil er am 11. Januar einen unbeteiligten Helfer niedergeschlagen hatte, als er Stress mit der 22-Jährigen hatte und der Helfer ihr am Bahnhof zur Seite sprang und per Handy die Polizei rufen wollte.

Zur Haupttat, der Attacke auf das Zugpersonal: Die Schaffnerin wollte die Reisenden darüber informieren, dass die S-Bahn wegen der Wildkollision nicht weiterfahren könne, da eine Leitung abgerissen sei und man auf einen Ersatzzug warten müsse. Wann der komme, sei ungewiss. Daraufhin belegte die Angeklagte die 50-jährige Schaffnerin mit derben Worten („Schwein, Sau...“).

Die Zugbegleiterin floh daraufhin zum Lokführer. Zusammen mit ihr suchte er das Paar auf, um die Lage zu entschärfen. Doch es kam anders. Anscheinend tickte die 22-Jährige völlig aus. Sie wollte vor Ort mit Bargeld entschädigt werden, brüllte „Scheißbahn, Geld zurück, sofort!“ und stürzte sich auf den zwischenzeitlich an einer schweren Krankheit verstorbenen Lokführer.

Als sie ein Handy in seiner Hemdtasche sah, griff sie mehrfach erfolglos danach. Sie hätte es als Ausgleich für die Verspätung nehmen und zu Geld machen wollen, gab sie an. Erst dann kam der 25-Jährige ins Spiel. Er schlug auf den Lokführer ein, angeblich, weil dieser ihn in den Finger gebissen hätte, als er in den Führerstand der S-Bahn vordringen wollte.

Später traten er und seine Freundin auf den Mann ein. Sie räumte auch Schläge ein. Wegen der versuchten Wegnahme des Handys stand auch räuberische Erpressung im Raum. Das Gericht wertete die Tat aber nur als versuchten Diebstahl.

Ein Notfallmanager der Bahn hatte zumindest Teile der Attacke beobachtet. Der 54-Jährige gab als Zeuge an, Fußtritte des rabiaten Duos gesehen zu haben. Ob diese auch trafen, habe er allerdings nicht wahrgenommen. Und auch keine Verletzungen beim Lokführer gesehen. In einem Protokoll der von der Schaffnerin alarmierten Polizei stand geschrieben, dass der Lokführer blutete.

Was das Pärchen so dermaßen ausrasten ließ, blieb weitgehend im Dunkeln. „Der Sachverhalt ist an entscheidenden Stellen nicht klargeworden“, sagte Richterin Petra Ludwig in der Urteilsbegründung. Nach Angaben der 22-Jährigen hätten beide vor der Fahrt Cannabis geraucht und waren angeblich deshalb so aufgebracht, weil sie ihr letztes Geld in die Bahntickets investiert hatten, um in Wittenberge eine Lautsprecherbox zu verkaufen. Das Urteil nahmen beide noch im Gerichtssaal an.