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Tangerhütter Fall schreckt auf / Im Landkreis Stendal gibt es keine Vorrichtungen Nutzen von Babyklappen ist umstritten

06.08.2013, 01:16

Warum setzt eine Mutter ihr Kind aus? Hätte es keine Alternativen gegeben? Fachleute auch in Stendal sind hierbei geteilter Meinung. Ein neues Gesetz soll ab 2014 eine "vertrauliche Geburt" ermöglichen.

Stendal l Wie verzweifelt muss eine Mutter eigentlich sein? Kurz nach der Geburt setzt sie ihr Neugeborenes aus, so wie es vergangene Woche in Tangerhütte passiert ist. Schnell taucht dann die Frage auf: Gibt es denn keine andere Möglichkeit, als sein Kind im Fahrstuhl einer Stadtverwaltung sich selbst zu überlassen? Eine Babyklappe zum Beispiel.

Nein, eine Babyklappe gebe es im Landkreis Stendal nicht, dafür aber "ein breitgefächertes Angebot an Betreuungs- und Beratungehilfen für Schwangere in Krisensituationen", erklärte gestern Kathrin Müller, Leiterin des Jugendamtes des Landkreises Stendal. Man sei gut vorbereitet "allerdings gibt es immer Frauen, die den Weg zu diesen Angeboten, oder auch das Vertrauen in die jeweiligen Mitarbeiter, nicht finden." Eine Babyklappe sei keine Patentlösung dafür, dass Mütter ihre Babys nicht trotzdem zu Hause statt im Krankenhaus zur Welt brächten.

"Es ist und bleibt eine rechtliche Grauzone."

Pfarrer Ulrich Paulsen

Die leise Kritik an der Babyklappe, die bei Kathrin Müller im Unterton mitschwingt, kommt nicht von ungefähr. Immerhin gibt es bis heute noch keine gesetzliche Grundlage für diese Einrichtungen. Zwar gibt es Babyklappen bereits seit dem Mittelalter. Schon damals konnten Schwangere in Krisensituationen ihre Neugeborenen anonym bei einer medizinischen Institution abgegeben, um Aussetzungen oder Tötungen Neugeborener zu verhindern. Seit 2001 gibt es auch in Sachsen-Anhalt entsprechende Einrichtungen, unter anderem in Halle, Dessau-Rosslau und Magdeburg.

Dennoch sind Babyklappen rechtlich, moralisch und bezüglich ihres Nutzens umstritten. "Eine Grauzone", wie Ulrich Paulsen, Pfarrer und Seelsorger im Johanniter-Krankenhaus Stendal, die Thematik benennt. Ohne Gesetzesgrundlage eigentlich illegal, werden Babyklappen aber aus Sorge um die Neugeborenen und als Hilfestellung für die Schwangeren in Konfliktsituationen jedoch akzeptiert.

Als Mitglied der Ethikkommission des Johanniter-Krankenhauses hat Paulsen das Thema mit seinen Kollegen diskutiert, "aber es ist und bleibt ein Wagnis. So oft wir auch überlegt haben, eine Babyklappe hier im Krankenhaus einzurichten, zu einer Entscheidung konnten wir uns bisher nicht durchringen. Auch wegen der schwammigen Rechtslage", sagte Paulsen.

Damit die Mitarbeiter von Krankenhäusern, Hebammen, Mitarbeiter von Beratungsstellen aber auch schwangere Frauen in Konfliktsituationen künftig nicht mehr auf den grauen Pfaden der Gesetze wandeln müssen, hat die Bundesregierung ein neues Gesetz zur "vertraulichen Geburt" entworfen, dass im Mai 2014 in Kraft treten soll.

Demnach können Frauen, die ihre Schwangerschaft bisher verheimlicht oder verdrängt haben und ihr Kind nicht behalten wollen, im Krankenhaus ihr Kind "vertraulich" zur Welt bringen.

Statt wie bisher anonym, sollen sie zwar dann ihre Daten hinterlassen, genießen jedoch den rechtlichen Schutz auf Anonymität, zumindest solange, bis ihr Kind das 16. Lebensjahr erreicht hat. Dann hat das Kind nicht nur die Chance, seine Identität feststellen zu lassen, sondern auch das Recht, zumindest namentlich zu erfahren, wer die leibliche Mutter ist. "Eine sehr gute Alternative", findet Jugendamtsleiterin Kathrin Müller, vor allem mit Blick auf das Wohl des Kindes. "Damit wird man vor allem auch dem Kind gerecht, denn es hat ja auch moralisch ein Recht zu erfahren, wo seine Wurzeln sind. Dieses Recht wird ihnen mit den Babyklappen genommen."

Es müsse gut überlegt sein, ob es tatsächlich von Nutzen sei, in Stendal eine Babyklappe einzurichten, lautet die Überlegung von Prof. Ulrich Nellessen, ärztlicher Direktor und Vorsitzender der Ethikkommission des Johanniter-Krankenhauses. "Es geht dabei nicht um finanzielle Belange", betont er deutlich und ergänzt, "dass bisher der Bedarf noch nicht da war. Es hat eine Situation wie die aktuelle in Tangerhütte bisher noch nicht gegeben. Wir sind bei der Betreuung für Schwangere in Krisensituationen sehr gut eingerichtet, auch für die Frauen, die nicht wissen, wie es für sie und für das Kind nach weitergehen soll."

Um langfristig die bestmöglichen Angebote zu schaffen, sei man auch immer auf die Mithilfe der Schwangeren angewiesen, so Nellessen.

Im Falle des Findelkindes aus Tangerhütte, deren Mutter bereits ausfindig gemacht wurde, "werden wir als Jugendamt versuchen, Kontakt aufzunehmen und ins Gespräch zu kommen", erklärte Kathrin Müller.

"Das ist meist eine Kurzschlussreaktion."

Gesine Thom, Hebamme

Es sei wichtig, der Frau nicht mit Vorurteilen zu begegnen, sondern "herauszufinden, was sie zu dieser Handlung veranlasst hat", sagt Hebamme Gesine Thom. "Wenn Mütter ihre Kinder aussetzen, ist das meist eine Kurzschlussreaktion. Oft haben sie ihre Schwangerschaft verheimlicht." Häufig kämen diese Frauen aus schwierigen Verhältnissen. Sie würden oft keinen anderen Ausweg sehen, als ihr Kind auszusetzen.

"Wir müssen Vertrauen schaffen. Eine breite Aufklärung ist die beste Prävention, die man Schwangeren in Krisensituationen bieten kann", so Ulrich Paulsen.