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Petition „Hagenbeck war ein Kind seiner Zeit“

Die von der Fotografin Johanna Brinckman initiierte Petition zur Umbenennung der Hagenbeck-Straße hat die Debatte in Stendal entfacht.

Von Donald Lyko 19.08.2020, 01:01

Stendal l Jörg Hosang hat zu Hagenbecks Völkerschauen eine ganz klare Meinung: „Ich persönlich finde das ‚Begaffen‘ von Menschen, die aus irgendeinem besonderen Grund anders aussehen, absurd und unangemessen. Natürlich sind solche Schauveranstaltungen aus heutiger Sicht abzulehnen.“ Wie auch bei vielen anderen Themen, komme „man aber auch hier mit reinem Schwarz-Weiß-Denken zu keinem konstruktiven Dialog. Man muss auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in der damaligen Zeit beachten. Hagenbeck war ein Kind seiner Zeit“, sagt der Stendaler, der in den vergangenen Jahren umfangreich zur Geschichte seiner Heimatstadt Stendal recherchiert hat – und dabei ein ganz konkretes Beispiel dafür gefunden hat, dass auch in Stendal Menschen zur Schau gestellt wurden.

Am 13. Juni 1913 wurde per Annonce dafür geworben, dass an vier Tagen Lionel, der Löwenmensch, zu sehen ist – „Halb Mensch! Halb Löwe! Lebend! Der Liebling der Frauen!“ An dem Tag gab es im Altmärkischen Intelligenz- und Leseblatt zudem einen Beitrag zum „großen Weltwunder“. Darin heißt es: „Unsere Redaktion erhielt heute einen eigenartigen Besuch. Lionel, der Löwenmensch, stellte sich uns vor. Unsere Leser brauchen nicht zu erschrecken. Lionel ist ein nettes, intelligentes Kerlchen, dessen Körper, auch der Kopf, mit goldgelbem Haar bedeckt ist, das sich wie Seide anfühlt. Das Antlitz hat ganz das Aussehen eines Löwengesichtes, nur harmloser. Lionel ist ein geborener Russe, 19 Jahre alt, liest, schreibt, reitet, spricht zwei Sprachen und sieht mit seinem zierlichen Beinchen, die in schwarzen Pantalons stecken, aus wie ein Tanzmeister. Man braucht also in keiner Weise Furcht vor dem Löwenmenschen zu haben, wenn er in Haupts Restaurant morgen gezeigt wird.“ Lionel der Löwenmensch war der Künstlername von Stephan Bibrowsky, der unter Hypertrichose litt, einem übermäßigen Haarwuchs, und zur Attraktion einer Kuriosenschau gemacht worden war.

„Der Zeitungsartikel und die Annonce geben einen Einblick in die damalige vorherrschende Denkweise“, so Hosang. Darum sollte das Lebenswerk Carl Hagenbecks differenziert betrachtet werden. Dabei müsse auch über seine „Völkerschauen“ kritisch berichtet und diese durchaus auch verurteilt werden. „Ich meine aber, mit ‚Denkmal- und Straßenschild-Stürmerei‘ kann man kein Umdenken bei den Menschen erreichen, sondern nur mit Aufklärung und differenzierter Betrachtung“, reagierte Hosang auf den Volksstimme-Bericht über eine Petition, die die gebürtige Hamburgerin und jetzt in Los Angeles lebende Fotografin Johanna Brinckman formuliert hat. Aktuell sammelt sie online Unterstützer dafür.

Sie fordert, dass die Gedenkstatue für Hagenbeck im Hamburger Tierpark entfernt und dass die Stendaler Carl-Hagenbeck-Straße umbenannt wird. Ihr Vorwurf: Mit seinen „Völkerschauen“, bei denen Menschen ferner Länder und Kulturen ausgestellt wurden, habe Carl Hagenbeck dazu beigetragen, dass sich rassistische Vorurteile verbreiten und bis heute im Gedankengut festsetzen konnten.

So wie Jörg Hosang dafür plädiert, bei einer Beurteilung immer den historischen Kontext zu berücksichtigen, dürfe auch ein Blick auf heutiges Verhalten nicht ausbleiben. Heute gibt es keine „Völkerschauen“ , „aber viele Touristen fahren in die entlegensten Ecken der Erde, bestaunen die ‚fremden‘ Menschen, lassen sich von diesen Naturvölkern etwas vortanzen oder vorleben – was meist mit der eigentlichen Geschichte dieser Völker nicht mehr viel zu tun hat – und bezahlen dann dafür. Was ist daran jetzt anders, als bei den Schauen von früher?“ Zudem müssten sich Medien fragen lassen, wie sie zur Zurschaustellung von Menschen stehen.

Nichts von der Umbenennung hält Dietmar Schulz, der selbst in der Carl-Hagenbeck-Straße wohnt. Seit 1979 wohnt er im Stadtseegebiet, bis 2013 in einer anderen Straße. Aber auch die war wie die Carl-Hagenbeck-Straße in den 1990er Jahren umbenannt worden. „Es hat teilweise Jahre gedauert, bis ich die damalige Post pünktlich bekam. Das gleiche könnte jetzt passieren, auch wenn heutzutage viel über die elektronische Post abgewickelt wird“, befürchtet der Stendaler, der sich per E-Mail zum Thema zu Wort gemeldet hat.