Migration Syrischer Arzt lebt lieber in Stendal als in Hamburg
Der syrische Arzt Mohamad Ghazal zieht die Altmark der Metropole an der Elbe vor.
Stendal. Als der Flieger abhob, liefen Mohamad Ghazal die Tränen übers Gesicht. Konnte er einfach nichts dagegen machen. Der Schmerz des Abschieds traf ihn plötzlich und unvermittelt. Klar hatte der damals 25-jährige Syrer in den Tagen vor seiner Ausreise nach Deutschland darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn das Flugzeug von Beirut nach Frankfurt in die Luft steigt. Nun war es doch ganz anders. Weil der junge Arzt in diesem Moment merkte, dass man ein neues Leben nur beginnen kann, wenn man das alte zurücklässt: Freunde, Familie, Beruf.
Fast nichts davon erwartete ihn Deutschland. Von seinem älteren Bruder einmal abgesehen. Der hatte ihr Heimatland Syrien wegen des Bürgerkriegs schon 2015 verlassen und Mohamad überzeugt, es ihm gleich zu tun. Die Regelungen des Familiennachzugs machten es möglich. Nachdem er sich im Libanon, dem südlichen Nachbarland Syriens, die nötigen Papiere besorgt hatte, reiste er über die libanesische Hauptstadt aus.
Erst in Stendal richtig heimisch geworden
Mühsam eignete er sich in Kassel, seiner ersten Station nach der Ankunft, die Sprache an und bemühte sich danach, um die Anerkennung seines Studiums. Dabei machte er sich Stück für Stück mit den Eigenheiten seiner neuen Heimat vertraut.
„Sehr viel über Deutschland wusste ich bis dahin nicht. Eigentlich kannte ich nur Mercedes und die Autobahn“, erzählt Mohamad Ghazal mit selbstironischem Unterton, als er Anfang am April am Stendaler Stadtsee steht und einen großen Schluck Kaffee aus seinem Becher nimmt. Nach seinem Nachtdienst im Johanniter-Krankenhaus tut das Koffein gut.
Trotz des wenigen Schlafs ist seine Laune blendend. Liegt einerseits an der milden Frühlingsluft. Andererseits fühlt sich der angehende Urologe in Stendal und der Altmark extrem wohl. Wohler als in den anderen Orten, in denen er bisher in Deutschland gewohnt hat. Und das waren mit Kassel, Jena, Hamburg und Lüneburg immerhin schon vier. Seit dem 1. Oktober 2020 ist er offiziell Bürger der Hansestadt.
Kein Problem, in den Osten zu ziehen
Doch widerspricht er damit nicht dem landläufigen Klischee, wonach sich Geflüchtete in Großstädten wohler fühlen als in der Provinz, noch dazu in der ostdeutschen? Mohamad Ghazal überlegt kurz, bevor er antwortet: „Ich bin in Syrien in einer kleinen Stadt aufgewachsen. Von der Größe her vergleichbar mit Stendal. Ich mag es etwas ruhiger.“Hamburg sei dagegen stets so voll mit Menschen gewesen. Und ein Problem damit, einen Job im Osten anzunehmen, habe er ebenso wenig gehabt. Obwohl es, das gibt er zu, eher dem Zufall geschuldet war, dass er in der Altmark heimisch wurde. Von der Region hatte vor seinem ersten Besuch nie etwas gehört.
In einem Mix aus beruflicher Frustration und dem Drang, etwas Neues kennenzulernen, wandte er sich an eine Agentur zur Vermittlung von Ärzten. Die schlug den Job in Stendal vor. Nach dem Vorstellungsgespräch ging es dann ganz schnell. Der Vertrag wurde unterzeichnet und die Umzugskisten gepackt.
Für den Syrer war der relativ abrupte Wechsel kein Hindernis. „Ich bin nirgendwo festgebunden. Ein Wechsel des Ortes ist für mich kein großer Aufwand“, sagt er trocken.
Womit er aber nicht andeuten möchte, dass er bereits in absehbarer Zeit zu neuen Ufern aufbricht. Die Altmark soll noch etwas länger seine Heimat bleiben. Hier stimme die Mischung ganz besonders. „Beruflich kann ich mich viel besser verwirklichen als in den anderen Orten“, erzählt Mohamad Ghazal. „Ich habe hier einen Chef, der sich Zeit nimmt, zuzuhören. Das war nicht immer so“, stellt er fest.
Islamische Gemeinde Stendal bietet Geborgenheit
In Lüneburg beispielsweise habe er in einem Maße Überstunden leisten müssen, das ihm den Spaß an der ärztlichen Tätigkeit fast komplett verleidet hätte. Immer auf Abruf sei er gewesen, hätte kaum abschalten können. Ganz ähnlich sei es in Hamburg gewesen, als er auf der Unfallchirurgie anfangen wollte. „Da haben mir Ärzte vor dem Vorstellungsgespräch gesagt, dass ich es mir lieber zweimal überlegen soll, dort zu arbeiten“, erinnert er sich an eine kuriose Begebenheit.
Davon abgesehen habe er privat ebenso Anschluss gefunden. In der Stendaler islamischen Gemeinde zum Beispiel. Nicht nur in religiöser Hinsicht seien die Besuche dort wichtig für ihn. Es fühle sich außerdem stets so an wie ein Besuch in der alten Heimat.
Allerdings legt der Arzt darauf Wert, auch zu Einheimischen Kontakte zu knüpfen. „Das war mir schon nach meiner Ankunft in Kassel sehr wichtig. Dort habe ich die Sprache deshalb so gut gelernt, weil ich viel mit deutschen Studenten zu tun hatte“, sagt er. Auf diese Weise lerne man eine fremde Gegend viel besser kennen und werde dort viel schneller sesshaft.