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Holocaust Tod ist nicht gleich Tod

Der Historiker Dan Diner sprach in Stendal über Kollektivgewalt und wie man sich ihrer erinnert.

Von Bernd-Volker Brahms 30.01.2019, 00:01

Stendal l Die These, die der emeritierte Geschichtsprofessor Dan Diner in Stendal bezüglich des Massenmordes an den Juden im Zweiten Weltkrieg vertritt, ist beachtlich steil. Der 72-Jährige bringt es auf eine einfache Formel, warum es in Deutschland jahrzehntelang kaum eine breite Erinnerung an den Genozid gegeben hat und warum die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ 1979 zu einem politischen Ereignis werden konnte und die deutsche Bevölkerung derart berührte, wie sie es tat – zumindest in Westdeutschland, wo die vierteilige Serie in den dritten Programmen lief.

Es sei der globale Ost-West-Konflikt gewesen, der eine nähere Beschäftigung nicht zugelassen habe, sagt Dan Diner am Sonnabend im Musikforum Katharinenkirche vor rund 50 Zuhörern. „Angesichts eines aktuell möglichen nuklearen Genozids war es den Menschen nicht möglich, sich auf einen vergangenen Genozid einzulassen.“ Die Psyche habe keinen Platz gehabt. Erst als im Dezember 1979 der Nato-Doppelbeschluss gefasst worden sei und dies eine gewisse politische Entspannung mit sich brachte, sei das Interesse an dem, was den Juden angetan worden sei, in größerem Stil möglich gewesen, sagte der Historiker, der zuletzt bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts der Universität Leipzig war und auch in Jerusalem Geschichte gelehrt hatte. Diner kam im Übrigen als Kind polnisch-litauischer Displaced Persons in der amerikanischen Besatzungszone in München zur Welt.

Dan Diner bezog sich in seinem Vortrag unter dem Titel „Unterscheidungen. Über Kollektivgewalt und Gedächtnis“ ausdrücklich auf die breite Erinnerungskultur und nicht auf die Geschichtswissenschaft, die sich allerdings auch erst ab den 1980er Jahren den Opfern des Nazi-Regimes zugewandt hatte. Zuvor war man damit beschäftigt, zu erforschen, wie es zu dem Zivilisationsbruch kommen konnte. Letzterer Begriff wurde von Diner geprägt, um hervorzuheben, dass es sich nicht um einen weiteren Massenmord in der Geschichte gehandelt, sondern dieser eine neue Dimension erreicht hatte – und das nicht nur angesichts der hohen Zahl von mehr als sechs Millionen jüdischen Opfern. „Es sei grundlos gemordet worden“, sagte Dan Diner. So seien beispielsweise Facharbeitskräfte, die kriegswichtige Arbeit verrichteten, auch umgebracht worden. „Die Zeitgenossen wollten es nicht glauben, dass dies geschieht.“

Auch die Judenräte in den Ghettos seien ein Ausdruck für den Zivilisationsbruch. So hatte der Judenälteste Chaim Rumkowski 1942 im Ghetto Łodz die Eltern angefleht, ihre Kinder an die Deutschen auszuliefern, damit Arbeitsfähige überleben könnten. Am Ende mussten fast alle ins Gas. Dan Diner geht es bei seinen Ausführungen darum, wie an Ereignisse von Massenmord in unterschiedlicher Weise erinnert wird. Er sagt: „Das kollektive Gedächtnis der Deutschen ist kontaminiert mit Nazi-Gedanken.“ Er meint damit, dass in Opfergruppen unterschieden und eine Wertigkeit bei der Form der Tode aufgemacht werde. Dies sei kein Vorwurf, nur eine Feststellung.

Ohnehin unterscheide auch das Strafrecht nach unterschiedlichen Todesarten, so gebe es Mord und fahrlässige Tötung. Deutsche Historiker tendierten dazu, die Geschichte so zu interpretieren, dass der am Ende vollzogene Massenmord nicht beabsichtigt war, sondern durch die Aneinanderreihung von Ereignissen sich ergeben habe – also fahrlässige Tötung. Jüdische Historiker sehen deutlicher einen Plan hinter den Ereignissen – also Mord.

In der DDR habe es mit dem Antifaschismus ein „falsches Bewusstsein vom Faschismus“ gegeben, sagte er. Man habe die antifaschistischen Kämpfer zu Erinnerungsikonen gemacht, die sich in freiwilliger Weise dem Regime entgegenstellt hätten. Demgegenüber seien die als Gegner auserkorenen Juden keine „gleichwertige Opfergruppe“ gewesen.

Dan Diner fragt, warum in Russland nicht in derselben intensiven Weise der Opfer des Stalinismus gedacht werde? Dies sei aus seiner Sicht der Fall, da die Morde dort nach innen gerichtet gewesen seien. „Wenn ein Bürgerkrieg endet, dann ist Schweigen Pflicht“, sagte der Historiker. Es sei nahezu überlebensnotwendig, in bestimmten Situationen Ereignisse zu verschweigen.

Der Mord an den Juden sei nach seiner Definition dagegen nach außen gerichtet gewesen, es sei eine Gruppe Menschen außerhalb der Gesellschaft gestellt und umgebracht worden. Diese Form des Todes wirke sich auf das kollektive Erinnern aus.

Als ein weiteres Beispiel nannte der Historiker die Bedeutung des Massakers von Katyn für die polnische Bevölkerung. In einem Waldstück waren rund 4400 polnische Offiziere vom russischen NKWD ermordet worden. Allein die Zahl mache nicht deutlich, warum die Erinnerung an das Ereignis für die Polen so wichtig ist. Es sei 1940 die polnische Führungsebene umgebracht worden – und das in einer Situation, da sich das Land zwischen der Sowjetunion und Deutschland fast zerrieben fühlte.