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Virus-InfektionAlles schon mal da gewesen ...

Im Stendaler Stadtarchiv geblättert. Heute: In Zeitungsberichten von 1918 rund um die "Spanische Grippe".

Von Nora Knappe 28.10.2020, 00:01

Stendal l Ist es eher ernüchternd oder eher beruhigend zu begreifen, dass das menschliche Dasein von den immer gleichen Dingen begleitet oder gar ausgemacht wird? Dass alles schon mal da gewesen ist, dass sich alles wiederholt, dass im Grunde auch die Evolution bloß selbstgerechte Einbildung ist? Auf solcherlei gedankliche Schleichwege gerät man, wenn man in den Zeitungen vergangener Tage blättert.

Wie auch immer: Über das, was wir gerade mit der Corona-Pandemie durchleben, könnten Unsterbliche des vorigen Jahrhunderts nur müde lächeln: Ach ja, das wieder ... Die Grippe, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ja fast genau vor 100 Jahren, in der Welt unter dem Namen „Die Spanische“ wütete, bewirkte nämlich all das, was die derzeitige Virus-Pandemie auch bewirkt: Schock, Spekulation, Scharlatanerie und Schließungen. Mit dem Abstand der Jahrzehnte liest sich das zuweilen ganz amüsant, allerdings auch frappierend aktuell – im Altmärkischen Intelligenz- und Leseblatt des Herbstes 1918.

Der beunruhigende Anstieg der Erkrankungszahlen ist regelmäßig Thema und hat mangels medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse neben Ratlosigkeit die auch in der Covid-19-Pandemie gültige Empfehlung der häuslichen Quarantäne parat: „Ein gewisser Schutz dagegen durch Medikamente oder Einreibungen besteht nicht. Im Falle des Auftretens von Frost usw. suche man sofort das Bett auf und hole einen Arzt.“

Diesem Artikel vom 10. Oktober folgt am 21. Oktober einer, der die Ernstlichkeit der „äußerst leicht übertragbaren“ und sich rasch verbreitenden Influenza-Seuche deutlich macht: „Die von der Oeffentlichkeit dringend geforderte Schließung der Schulen, die mittlerweile auch in Stendal verfügt wurde, rechtfertigt sich zweifellos.“ Nicht nur Risikogruppen, sondern „übrigens auch jedermann“ solle „den Massenverkehr meiden, sich von Gelegenheiten fernhalten, wo sie mit vielen Menschen in nahe körperliche Berührung kommen oder von anderen angehustet werden können“.

Und während in selbigem Beitrag dazu gemahnt wird, etwaige „Nachrichten über günstige Erfolge“ eines Heilserums mit Vorsicht aufzunehmen, ist zwei Tage später ein Artikel mit der Schlagzeile „Heilung der Grippe in 24 Stunden“ zu lesen. So habe der Chefarzt eines ungarischen Offizierserholungsheims „sehr viele Fälle von Grippe behandelt und, wie er behauptet, jeden Fall binnen 24 Stunden dadurch geheilt, daß er gleich nach Auftreten des Fiebers eine Dosis von 0,3 bis 0,6 Gramm Kalomel verabreichte, sowie nach 4 bis 8 Stunden je ein halbes Gramm Aspirinpulver. Alle Patienten waren schon anderntags fieberfrei, und niemals traten Komplikationen ein.“ Klingt doch verdächtig bekannt nach so manch angeblich vielversprechendem Medikament gegen Covid-19 anno 2020 ...

Oh, auch das Hamstern bestimmter Nahrungsmittel gibt es freilich nicht erst heute. Allerdings war das Raffen und Horten eines bestimmten Produktes damals staatlich-militärisch induziert, wie am 10. Oktober in einem zitierten Rundschreiben des Vorsitzenden der Reichsstelle für Gemüse und Obst zu lesen ist: „Der Bedarf der bewaffneten Macht an Sauerkraut aus der Ernte 1918 ist so hoch, daß die Fabriken aller Voraussicht nach vorwiegend für seine Deckung werden arbeiten müssen. Trotz dem günstigen Ausfall der Gemüseernte ist daher leider damit zu rechnen, daß es nicht oder nur beschränkt möglich sein wird, den Bundesstaaten Sauerkraut in einem zur Befriedigung der herkömmlichen Nachfrage der Bevölkerung ausreichenden Umfange zu überweisen.“

Wer angesichts dessen Trost in kultureller Kurzweil suchte, blieb jedoch ungetröstet. Am 5. November verkündete die Zeitung die vorübergehende Schließung der Vergnügungsstätten. Eine Demo dagegen war zwecklos, denn auch Versammlungen waren polizeilich verboten (siehe unteres Foto).

Damit zu liebäugeln, dann eben im Nachbar-Ausland auf seine kulturellen Kosten zu kommen, hatte ebensowenig Sinn. Denn so wie ganz aktuell Reisepläne nach Dänemark durch die Schließung der Grenze für deutsche Touristen vereitelt werden, erfuhren die altmärkischen Leser auch im November 1918, dass sich solch ein Ausflug in die Ferne nicht lohnen würde, denn: „Das dänische Justizministerium hat eine Verordnung erlassen, nach der wegen der starken Verbreitung der Grippe sämtliche Theater, Varietés, Kinos, Tanzsäle und ähnliche Anstalten im ganzen Lande geschlossen werden.“

Aber ohnehin gab es da ja schon Einschränkungen des Reiseverkehrs, die sich nun, so ist am 29. Oktober zu lesen, noch verschärften: „Die starke Zunahme der Erkrankungen erfordert aber schleunigst die Aufhebung weiterer Züge zur Gewinnung von Lokomotiv- und Zugbegleitpersonal, um ernste Schwierigkeiten bei der Abwicklung des kriegswichtigen und des Nahrungsmittelverkehrs, insbesondere der Kartoffelversorgung, abzuwenden.“ Wie war das noch mit diesem systemrelevant?

Ach, und als ob die Bundesregierung im Jahre 2020 aus der Zeitung von 1918 abgeschrieben hätte, begegnen wir dort dem dringenden Appell, „nur dann zu reisen, wenn unabweisbar dringende Gründe vorliegen“.

Nun, zumindest per Zeitung in die Vergangenheit zu reisen, lohnt sich allemal und ist völlig ungefährlich.