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Die "Trittel‘sche Buchhandlung" wird 20 / Inhaberin Ellen Trittel ist Buchhändlerin aus Leidenschaft "Wer nicht liest, verpasst das Leben"

26.08.2011, 04:39

Für manche ist es ein aussterbender Beruf, für Ellen Trittel aber immer noch der schönste auf der Welt: Buchhändler. Vor 20 Jahren hat sie sich mit einem eigenen Laden selbständig gemacht. Volksstimme-Redakteurin Nora Knappe sprach mit Ellen Trittel (48) über die mächtige Wirkung der Moderne auf die Lesekultur, über interessante Entdeckungen durch Kunden und den Wert einer persönlichen Buch-Empfehlung.

Volksstimme: 20 Jahre Trittel‘sche Buchhandlung – waren es leichte Jahre oder mühevolle? Motivierende oder eher desillusionierende?

Ellen Trittel: Leicht waren sie gar nicht, zu keiner Zeit. Zum Anfang war ich sicher euphorisch und bin bestimmt ein bisschen naiv rangegangen. Desillusionierend war die Zeit eigentlich nicht, aber sicherlich bin ich im Lauf der Jahre ein bisschen bitter geworden. Aber ich bin nicht der Typ, der sich den Wind aus den Segeln nehmen lässt. Selbst jetzt, da viele Leute ihre Bücher im Internet kaufen...

Volksstimme: Diese Entwicklung ist stark zu spüren?

Trittel: Ja, das merkt man zurzeit total. Die Zahlen im Börsenblatt sind ganz schön erschreckend. Der Buchhandel im Internet hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt! Aber für mich kommt das nicht in Frage, Umsatz nur im Netz ist nicht das, was ich will.

Volksstimme: Es ist also nicht unbedingt die starke Konkurrenz unter den Buchläden in Stendal?

Trittel: Wir sind in der Tat nicht wenige Buchhandlungen, aber der wahre Feind sitzt hinter der schwarzen Mattscheibe im virtuellen Raum.

Volksstimme: Das klingt bedrohlich. Wie ist es also bestellt um die Trittel‘sche Buchhandlung im zwanzigsten Jahr ihres Bestehens?

Trittel: In diesem Jahr ist es echt haarig. Der Umsatz ist dermaßen zurückgegangen, dass ich befürchte, den Laden nicht mehr lange halten zu können. Bislang war es ja immer mal wieder ein Gehangel, aber es hat eben immer noch geklappt. Vielleicht hoffe ich ja auch einfach schon viel zu lange, dass es noch wird. Ich muss sehen, wie das Jahr zu Ende geht.

Volksstimme: Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, einen eigenen Laden aufzumachen? War das Zufall oder eine dezidierte Entscheidung?

Trittel: So spontan war die Entscheidung nicht. 1991 hat der Volksbuchhandel angefangen, die kleinen Buchhandlungen abzustoßen. Und ich dachte: Das wär doch schön, etwas zu verkaufen, was man selber gern mag. Ich hatte damals erst seit fünf Jahren als Buchhändlerin gearbeitet. Ich hab mir bei anderen Buchhändlern Rat geholt und schließlich die kleine Buchhandlung in Osterburg gekauft.

Volksstimme: Den Namen "Trittel‘sche Buchhandlung" gibt es also seit 20 Jahren, aber den Laden in Stendal...?

Trittel: Hier bin ich erst 2003 eingezogen. Zuvor war ich im Hoock, das war richtig schön, aber da kamen eben nur Touristen vorbei. Und dann war ich noch einige Zeit am Markt.

Volksstimme: War es von Beginn an Ihr Wunsch, etwas Besonderes anzubieten, ein Nischen-Laden zu sein?

Trittel: So ausgeprägt ist das eigentlich erst in Stendal geworden. Viele bieten eben doch eher das Gängige an, und ich dachte, das besondere Etwas fehlt hier, obwohl es die Kunden dafür gibt. Ich fand von Anfang an, dass man sich seine Kunden auch ein bisschen erziehen kann (schmunzelt). Nicht im Sinne von Missionieren, aber man kann den Leuten zeigen, dass es mehr Autoren gibt als die, die auf der Bestsellerliste stehen. Und dass man probieren kann. Dass das funktioniert, sehe ich: Viele wissen, wenn ich ihnen einmal etwas empfohlen habe, was ihnen gefallen hat, kommen sie gern wieder und fragen wieder nach Empfehlungen.

Volksstimme: Was ist für Sie der Reiz des Buchhändler-Daseins?

Trittel: Es ist der schönste Beruf der Welt, ist doch klar! Man lernt täglich was dazu. Auf einmal hast du ein Buch in der Hand, von dem man nie gedacht hätte, dass es das gibt. Und nur, weil ein Kunde es bestellt hat. Sicher ist das nur ein Halbwissen, das man sich auf diese Weise aneignet, aber dafür von allem ein bisschen.

Volksstimme: Sie würden nie wieder etwas anderes machen wollen?

Trittel: Für mich ist das hier das, was ich immer machen wollte. Ich kann mir auch nicht vorstellen, in einer Kette zu arbeiten, da würde ich mich nicht wohlfühlen.

Volksstimme: Hat sich das Berufsbild des Buchhändlers denn in all den Jahren gewandelt?

Trittel: Vor allem aus dem Blickwinkel der Menschen. Buchhändler wird als ein aussterbender Beruf angesehen, als einer ohne Zukunft. Das ist mir mal im Gespräch mit einer Praktikantin hier bewusst geworden, deren Eltern ihr von ihrem Berufswunsch abgeraten haben. Und vielleicht hatten sie gar nicht so Unrecht. Es wird nicht nur die kleinen Buchhandlungen treffen. Aber trotzdem glaube ich, dass es immer jemanden geben muss, der "vorkostet", der empfiehlt. Ein Buchhändler hat Menschenkenntnis, eine Empfehlung im Internethandel ist anonym und zufällig. Im Laden, zumindest kann ich das für mich behaupten, geht es nicht nur ums Verkaufen um jeden Preis. Da rät man eben auch mal ab, wenn man weiß, das ist garantiert nichts für den Kunden. Und es gibt eine Atmosphäre, einen Moment der Ruhe, die Möglichkeit zum Gespräch oder zu Begegnungen. Bücherkaufen ist nicht Konsumieren, sondern Erleben.

Volksstimme: Die Lust auf Bücher, aufs Lesen ist Ihnen angesichts dieser Entwicklung aber nie vergangen?

Trittel: Manchmal ist es bitter, wie gesagt. Aber der Laden ist mein Leben. Und die Lust aufs Lesen ist mir keinesfalls vergangen. In den Urlaub zum Beispiel nehme ich immer was Klassisches mit und was Jetziges.

Volksstimme: Was sollte man unbedingt gelesen haben?

Trittel: Unbedingt Jon Kalman Stefansson, einen isländischen Autor, den liebe ich. Auch A.F.Th. van der Heijden, der schreibt herrlich zeitgeschichtliche Sachen. Und als Klassiker sollte man Ödön von Horvath mal gelesen haben, da empfehle ich "Jugend ohne Gott", spannend und interessant, das liest man an einem Tag durch.

Volksstimme: Was verpasst denn jemand, der nicht liest?

Trittel: Der verpasst ja fast alles in seinem Leben. Man kann so wenig selbst erleben und so viel erlesen. Ich lese zum Beispiel gerade ein Buch aus den 80ern von Maja Ganina: "Hundert meiner Leben". Sie zeichnet darin ein ganz tolles Frauenbild, es geht um eine Frau, die aus dem Moskau der 80er in die Taiga geht. Die Autorin hat so herrliche Sätze, mit denen sie die Korruptheit und Gier, dieses satte Leben ausdrückt. Da ist alles drin, was heute für uns auch zutrifft.

Volksstimme: Frau Trittel, hatten Sie je das Bedürfnis, selbst ein Buch zu schreiben?

Trittel: Nein, nie. Das überlass‘ ich den Leuten, die es können. Es gibt so viele gute Bücher, da möchte ich nichts verderben (lacht).