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Volksstimme-Volontär erlebt, wie es sich anfühlt, für einige Stunden blind zu sein Dinner im Dunkeln - wenn Löffel und Gabel beim Essen den Mund nicht treffen

Von Jörn Wegner 18.03.2014, 02:21

Leben in völliger Dunkelheit - das ist für blinde Menschen Alltag. Der Blindenverband organisiert Dinner, bei denen Sehende nachempfinden können, wie es sich anfühlt, ohne Augenlicht zu leben. Die Volksstimme hat das Projekt in Wernigerode begleitet.

Wernigerode l Jürgen Soisson, bittet zu Tisch - zu einem Essen in völliger Finsternis. Der Leiter des Blinden- und Sehbehindertenverbands im nördlichen Sachsen-Anhalt hat Sehenden in der verbandseigenen Aura-Pension "Brockenblick" in Wernigerode ermöglicht, die Lage von Blinden nachzuvollziehen.

Nach einer kurzen Einführung werden die Gäste in den Speisesaal im Keller des Gebäudes geführt. Angela Fischer trägt als Bedienung zum Gelingen des Abends bei. Die Leiterin der Bezirksgruppe Süd des Verbandes stellt sich als "Angela aus dem Keller" vor.

Von Beginn an nimmt sie jeden Gast an die Hand und leitet ihn mit beeindruckender Sicherheit zu Tisch. Danach beginnt die Herausforderung: Steht der Stuhl gerade am Tisch? Komme ich meinem Tischnachbarn zu nahe? Schnell lernt der Gast, sich zu orientieren, die Tischkante zu ertasten und den Stuhl daran auszurichten. Messer und Gabel auf dem Tisch erleichtern die Orientierung.

Selbstverständlichkeiten erscheinen plötzlich als Problem: "Wer ein Bedürfnis hat, ruft einfach `Angela`. Ich hole Sie dann ab und bringe Sie zur Toilette", sagt Angela Fischer.

Essen im Dunkeln heißt nicht nur, dass die Geschmackssinne viel stärker angesprochen werden als sonst. Im Dunkelrestaurant rücken ganz andere Dinge in den Vordergrund. Als Kellnerin Angela Fischer die Getränkebestellungen aufnimmt, schießen mehrere Gedanken durch den Kopf: Muss ich mein Getränk noch eingießen? Wie finde ich mein Glas - und vor allem: Wie finde ich mein Glas?

Die Hinweise der blinden Kellnerin helfen dabei ungemein. Rechts vom Dessertlöffel stellt sie das Gefäß ab, von der Messerspitze aus auf 1 Uhr, also ebenso wie die Zeiger auf der Uhr - oben, leicht rechts. Und: Das Glas ist bereits gefüllt.

Am Tisch bricht daraufhin Heiterkeit aus. Einmal das Glas nicht an den Ursprungsort zurückgestellt, und schon könnte es der Tischnachbar gegriffen haben. Überhaupt, wer sitzt da mit am Tisch und wieviele sind es? Es ist ein merkwürdiges, auch unangenehmes Gefühl, in die Dunkelheit hinein zu sprechen.

"Wir wollen nachempfinden, wie Blinde leben. Sie können nicht einfach das Licht einschalten."

Als das Essen serviert wird, erfüllt ein intensiver Geruch den Raum. Ob es an der Dunkelheit oder am Koch liegt - es schmeckt. Nur weiß niemand, was sich genau auf dem Teller befindet. Das Essen stellt die Gäste vor eine Herausforderung: Wie gelangen die Speisen auf die Gabel und von dort in den Mund? Ich versuche, die Gemüsestückchen durch unsystematisches Herumstochern aufzuspießen. Plötzlich erwische ich etwas Schweres. Als ich es zum Mund führe, stellt sich heraus, dass es eine Kartoffel ist. Also zurück auf den Teller und schneiden. Doch das Messer greift ins Leere. Dass der Raum komplett dunkel ist, hat auch einen Vorteil: Konventionen und Manieren sind weitgehend ausgeschaltet, so dass ich die Kartoffel mit der Gabel zum Mund führe und abbeiße.

Dann stellt sich die nächste Frage: Ist der Teller leer? Angela Fischers Tipp: "Blinde essen mit System." Ich streiche mit dem Messer über den Teller, immer vom Rand weg nach unten. Tatsächlich sammelt sich das restliche Gemüse. Schon ist die Herausforderung Dunkelessen gemeistert - zumindest was das Hauptgericht angeht.

Als Dessert serviert Angela Fischer einen Schokopudding. Wieder erfüllt ein intensiver Duft den Raum. Zum Nachtisch wird ein kleiner Dessertlöffel gereicht. Kein leichtes Unterfangen, denn wie viel Pudding sich auf dem Löffel befindet, kann nur anhand des Gewichts geschätzt werden. Ich scheitere mehrfach, bevor der Löffel endlich im Mund landet. Ich habe das Gefühl, wie ein Dreijähriger auszusehen, der sich mit Pudding bekleckert hat. Als die Gäste am Schluss aus dem Saal geleitet werden, bleibt das Licht aus. "Wir wollen nachempfinden, wie Blinde leben. Sie können auch nicht einfach das Licht einschalten", sagt Jürgen Soisson.

Der Verbandsvorsitzende ist selbst blind. Als junger Wehrpflichtiger hat ihm eine explodierende Mine das Augenlicht genommen. Das unterscheidet den 63-Jährigen von seiner Kollegin Angela Fischer, die von Geburt an blind ist. Soisson hat Vorstellungen von Farben und Gegenständen, während für Angela Fischer "rot" und "blau" nur abstrakte Begriffe sind, wie sie sagt.

Mit den Dunkelessen möchte Soisson um "mehr Verständnis" für die Lage der Blinden werben. Aus eigenen Erfahrungen kennt er viele Situationen - Spaziergänge, die einem Hürdenlauf gleichen, Einkaufsbummel, bei denen die Verkäufer grundsätzlich mit seiner sehenden Frau sprechen und nicht mit ihm.

Die Dunkelheit des Speisesaals war für uns Sehende eine zeitlich begrenzte Erfahrung. Dennoch wird einiges in Erinnerung bleiben: Die Sicherheit, mit der sich Angela Fischer mit Tellern und Gläsern zwischen den Tischen und Stühlen bewegte, Konversation ohne Gestik und Mimik und nicht zuletzt die Geschichten, die Angela Fischer und Jürgen Soisson aus ihrem Alltag erzählten.

Die Nachfrage nach dem Dunkelessen sei so stark gewesen, dass ein weiterer Termin organisiert werden musste, berichtet Soisson. In Wernigerode sind 25 Blinde und Sehbehinderte im Verband organisiert.