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Harz Erinnerung an Kindertage in Albrechtshaus

Barbara Jäger und Christa Thürmer haben ihre Kindheit rund um das Albrechtshaus bei Stiege verbracht. 65 Jahre später sahen sie sich wieder.

Von Katrin Schröder 17.01.2021, 00:01

Stiege l Sie haben gemeinsam im Sandkasten gebuddelt, rund um die Kapelle Verstecken gespielt und sind im Winter mit dem Schlitten die Abhänge rund um das Albrechtshaus bei Stiege hinuntergesaust. Doch dann trennte ein Umzug die Freundinnen Bärbel und Christel – und erst 65 Jahre später sollten sie durch eine E-Mail wieder zusammenfinden.

Für Barbara Jäger, die Bärbel gerufen wurde, hat sich damit nach Jahrzehnten ein Kreis geschlossen. „Ich habe immer nach ihr gesucht, wusste aber nicht, wo sie abgeblieben ist“, sagt sie über ihre Freundin Christa Thürmer, die damals Bittner hieß. Beide haben einen Teil ihrer Kindheit gemeinsam rund um die Lungenheilanstalt Albrechtshaus verbracht. Barbara Jägers Vater kam 1939 als Patient in die Klinik, später behandelte er dort als der Mediziner Tuberkulosepatienten.

1947 wurde er Chefarzt, im gleichen Jahr wurde seine Tochter Barbara in Wernigerode geboren. Die Familie wohnte im Chefarzthaus. „Ich erinere mich, dass wir dort oft zusammen gespielt haben“, sagt Christa Thürmer. Sie wurde ein Jahr nach ihrer Freundin in Stiege geboren. Ihre Eltern waren aus Schlesien geflohen, wurden zuerst in Blankenburg einquartiert und bewohnten dann ein Zimmer in dem Oberharzort. Der Vater, der in der alten Heimat einen Bauernhof hatte, fand Arbeit als Heizer in der Lungenheilanstalt. Später wurde er dort Krankenpfleger.

Die Familie zog in eine Wohnung im Heizhaus, das Anfang der 1950er Jahre erbaut wurde, um die gesamte Anstalt mit Wärme zu versorgen. Die Mutter arbeitete in der Wäscherei, bis sie selbst an Tbc erkrankte und als Patientin in der Klinik behandelt wurde. Christa Thürmer musste daraufhin ein Jahr bei ihrer Tante in Halle verbringen, bevor sie wieder nach Albrechtshaus zurückkehren durfte. „Unsere Eltern hatten immer Angst, dass wir uns anstecken“, erinnert sie sich. Die Kinder wurden regelmäßig per Röntgen untersucht – „aus heutiger Sicht zu oft“, sagt Christa Thürmer.

Die Gefahr, die von der Strahlung ausging, war damals nicht präsent, wohl aber die Angst vor der Lungenkrankheit. Damals griff die Tuberkulose um sich, ein Heilmittel war noch nicht in Sicht. Man versuchte nicht nur im Albrechtshaus, der Krankheit mit frischer Luft, gutem Essen und Liegekuren beizukommen. „Die Patienten mussten stundenlang liegen, manchmal mehr als ein halbes Jahr lang“, berichtet Barbara Jäger. Das Mädchen beobachtete von fern, wie die Kranken in großen Hallen oder dick eingepackt draußen in der Natur ausharrten und sich die Zeit vertrieben: „Sie haben Schach gespielt – das fand ich toll.“ Manchmal gab es Filmvorführungen für die Patienten, weiß Christa Thürmer: „Da wäre ich am liebsten mit hinein – aber das durften wir natürlich nicht.“

Die Kinder bauten derweil Mühlen an einem Bach, der sich durch den Wald schlängelte und spielten in einer Holzlaube mit Puppen. Gemeinsam besuchten Bärbel und Christel erst den Kindergarten in Güntersberge und dann die Schule im Ort. „Die ersten Jahre sind wir mit einem offenen Lkw dorthin gefahren“, berichtet Christa Thürmer. Eine Plane bedeckte das Gefährt, das oft bedenklich schwankte. „Ich habe mich immer ganz hinten hingesetzt, weil ich Angst hatte, dass ich herausfalle“, sagt sie. Auch ihre Freundin erinnert sich an holprige Fahrten durch den Wald. „Es war ein Lastwagen mit Holzbänken, eine alte klapprige Kiste.“

Wenn der Harzwald im Winter im Schnee versank, fiel für die Kinder aus dem Albrechhtshaus die Schule aus. Dann wurde gerodelt, was das Zeug hielt. Christa Thürmer erinnert sich gut an die Weihnachtsgottesdienste in der Stabkirche. „Dort herrschte eine besondere festliche Stimmung.“

Für Barbara Jäger endete die Kindheit im Schatten der Lungenheilanstalt, als sie acht Jahre alt war. Ihre Eltern waren „alte Halberstädter“, sagt sie – 1955, kehrte die Familie in die Heimatstadt zurück. „Mir hat es sehr weh getan, von Albrechtshaus wegzugehen“, erinnert sie sich. Das Mädchen musste seine Freunde zurücklassen, versuchte aber, Kontakt zu halten – zum Beispiel zu Christian Pohl, der „wie ein kleiner Bruder“ für sie war. Auch mit einigen Patienten blieb die Familie verbunden. Einer von ihnen, den ihr Vater operiert hatte, ist 2019 im Alter von 90 Jahren verstorben.

Christa Thürmer blieb derweil mit ihrer Familie im Albrechtshaus. „Ich habe meine gesamte Kindheit und Jugend dort verbracht“, sagt sie. Nach acht Schuljahren in Güntersberge wechselte sie auf die Oberschule in Thale und zum Studium nach Halle. Mit ihrem Mann, den sie dort kennen lernte, ging sie nach Potsdam, wo sie seit 50 Jahren lebt.

Dass die beiden wieder zusammengefunden haben, verdanken sie Regina Bierwisch. Die Stiegerin ist im Vorstand des Stabkirchen-Vereins aktiv, in dem beide Frauen Mitglied sind. „Barbara Jäger wollte schon immer Leute finden, die früher im Albrechtshaus gelebt haben“, sagt sie. Als in einem Gespräch der Name Christa Bittner fiel, horchte Regina Bierwisch auf: Ihre Mutter hatte mit Frieda Bittner zusammengearbeitet, die nach ihrer Erkrankung in die Küche der Einrichtung gewechselt war.

Per E-Mail brachte Regina Bierwisch die Frauen zusammen. Die Wiedersehensfreude war groß – auch als die Sandkastenfreundinnen feststellten, dass sie sich räumlich eigentlich immer nah waren: Barbara Jäger lebt seit 1965 in Berlin, wo sie studiert hat – und sie ist Mitglied in einer Radfahrgruppe in Potsdam, wo Christa Thürmer lebt. „Vielleicht sind wir uns zuvor schon auf der Straße begegnet, ohne es zu bemerken“, sagen beide unabhängig voneinander im Volksstimme-Gespräch.

Ein gemeinsames Foto vom Wiedersehen ist verloren gegangen – doch die Erinnerung an das Albrechtshaus hat die Freundinnen nicht losgelassen. Mit ihrer Familie hat Barbara Jäger immer wieder die Heilanstalt besucht. Ihr Vater ist dort 1982 verstorben – eine Folge der Röntgenstrahlen, denen er beruflich ausgesetzt war.

Beide Frauen sind Mitglied im Verein Stabkirche Stiege. Christa Thürmer ist dankbar für das Engagement der Kirchenretter. Für die Eltern hat sie zwei Sitzplätze im Gotteshaus reserviert, durch eine Patenschaft. „Diese Idee fand ich sehr schön.“ Vater und Mutter hätten ihr Leben im Albrechtshaus verbracht. „Die Kirche wird das Einzige sein, was davon bleibt.“