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Stadtentwicklung Kaum Platz für Wohngebiete in Wernigerode

Steht Wernigerode am Scheideweg? Wo die Stärken und Schwächen der Harzstadt liegen, erklärt Oberbürgermeister Peter Gaffert (parteilos).

Von Holger Manigk 14.09.2020, 02:36

Volksstimme: Beschreiben Sie Wernigerode bitte in drei Worten.
Peter Gaffert: Attraktiv, lebenswert, innovativ.

Die Stadt ist in vielen Bereichen Vorreiter im Harz. Warum?
Dieses Wachstum über Jahrzehnte baut auf mehreren Säulen auf: Der Tourismus hat sich in ungeahnte Sphären entwickelt. Ohne die vielen Gäste wäre eine so lebendige Innenstadt mit Geschäften, Restaurants und Cafés in einer 30.000-Einwohner-Stadt unvorstellbar.
Dazu bieten wir eine hervorragende Kinderbetreuung zu moderaten Preisen. Das ist für junge Familien ein Standortfaktor. Wir haben gute Schulen – sicher mit Sanierungsbedarf wie an der Francke-Grundschule. Aber da sind wir dran.
Am Scheideweg steht unsere Industrie. Bis zur Corona-Krise hatten wir eine Arbeitslosenquote von nur drei Prozent. Wir hängen maßgeblich von Automobil-Zulieferern ab. Den Trend zur E-Mobilität haben die Konzernspitzen in Deutschland verschlafen. Auf diesen Strukturwandel sind wir vorbereitet: Wir haben dazu die Lebensmittel- und Pharmaindustrie, verfügen mit Chocotech über eine Art Weltmarktführer unter den Anlagenbauern für die Süßwarenindustrie.

Ist der Gipfel des Erfolges für Wernigerode erreicht?
Bürger und Verwaltung können stolz sein auf ihre Stadt, das gilt für alle Bereiche! Die Wirtschaft habe ich exemplarisch angesprochen. Im Tourismus sehe ich noch Potenzial – allerdings mit Augenmaß.
Die Übernachtungszahlen lassen sich noch steigern, ohne dass das zu großem Frust bei Einwohnern führt. Ich bin überzeugt: Der Stadt würde ein weiteres gut geführtes, hochpreisiges Hotel gut zu Gesicht stehen – die Frage ist nur wo.
Das Gleiche gilt für Schierke: Wir haben dort seit der Eingemeindung die Zahl der Übernachtungen – auch dank Investoren – auf 300.000 im Jahr verdreifacht. Bei 400.000 Touristen liegt unser angepeiltes Maximum.

Noch mehr Urlauber in Wernigerode – das bedeutet noch mehr Autos und Verkehrschaos. Kann die Infrastruktur der Stadt das stemmen?
Da stehen wir in der Tat vor einem schweren Weg. Wir müssen den Mut aufbringen, in der Innenstadt den Autoverkehr weiter einzuschränken. Dazu brauchen wir mehr Großparkplätze am Stadtrand, insbesondere für Veranstaltungen wie den Weihnachtsmarkt oder das Rathausfest. Als Fernziel haben wir weiter den Tunnel durch den Fenstermacherberg, um lärmgeplagte Anwohner vom Lkw-Verkehr zu entlasten.
Gleichzeitig müssen wir Tagestouristen dazu bewegen, ihr Auto stehen zu lassen und auf öffentliche Verkehrsmittel oder Shuttle-Busse umzusteigen. Aber das ist schwer. Die Krux: Der Harz hinkt bei der Bahn-Anbindung weit hinterher, wenn man die Touristenzahlen betrachtet. Deshalb braucht Wernigerode schnellstmöglich mindestens einen IC-Anschluss.

Gleichzeitig wird Wohnraum immer knapper und teurer. Wie steuern Sie dagegen?
Es ist für Familien kompliziert, in Wernigerode den Traum von den eigenen vier Wänden zu verwirklichen. Wer durch Wernigerode geht, sieht: Es wird fast jede verfügbare Lücke bebaut. Durch die Lage zwischen Gebirge und Autobahn gibt es kaum Spielraum für neue Wohngebiete, nur noch kleine Freiflächen. Diese wollen wir entwickeln, etwa im Nesseltal oder an der Heinrich-Heine-Straße.
Problematisch ist, dass in der Innenstadt immer mehr Wohnraum als Feriendomizil genutzt wird: Wir gehen davon aus, dass wir in den vergangenen Jahren 100 Innenstadt-Wohnungen verloren haben, die nun an Urlauber vermietet werden. Wichtig ist mir, dass wir den Kampf um mehr Einwohner nicht aufgeben.

Vor welchen weiteren Herausforderungen steht die Stadt?
Es wird immer schwieriger, das hohe kulturelle und soziale Niveau zu halten. Einrichtungen wie Schloss, Philharmonisches Kammerorchester und Bürgerpark sind teuer. Aber sie machen Wernigerode lebenswert.
Mich persönlich als ehemaligen Förster bewegt zudem das Waldsterben im Harz. Was vorherige Generationen geschaffen haben, ist plötzlich nahezu wertlos. Selbst in Fachkreisen macht sich Ratlosigkeit breit. Dieses Symptom des Klimawandels wird uns viel Geld kosten und jahrzehntelang begleiten.

Was wollen Sie in den verbleibenden zwei Jahren Ihrer aktuellen Amtszeit noch erreichen?
Ich will sehen, wie begonnene Projekte fertig gestellt werden: die gläserne Werkstatt der Harzer Schmalspurbahnen, das Konzerthaus in der Liebfrauenkirche, die neue Francke-Grundschule sowie das Hotel Wurmbergblick in Schierke. Und der Umbau des Schlosses muss beginnen. Dazu wünsche ich mir endlich eine Perspektive für zwei gut sichtbare Gebäude im Stadtbild: das Palmenhaus im Lustgarten und die Storchmühle.
In der Stadtverwaltung meistern wir einen radikalen Generationswechsel und stellen uns technisch neu auf. Das ist nach außen kaum sichtbar, aber ungemein wichtig.

Und das Seilbahn-Projekt am Schierker Winterberg? Haben Sie das schon abgeschrieben?
Nein, aber wir sind das jahrelange Behörden-Pingpong leid. Das hat Nerven und Geld gekostet, ich sehe das Land in der Verantwortung. Aber: Ich möchte die positive Entwicklung Schierkes nicht abrupt abbrechen.

Stichwort zukunftsfähig: Wie sieht Wernigerode in zehn Jahren aus?
Es wird weiter eine attraktive Stadt sein. Ich hoffe, dass Wernigerode ein bisschen jünger wird und der positiv gesinnte Teil der Stadt die Oberhand behält.
Wenn man die Fakten nüchtern aneinander reiht und die Emotionen beiseite lässt, können wir zuversichtlich in die Zukunft schauen. Kritik gehört dazu, aber nur Meckern und Nein-Sagen bringt uns nicht weiter.

Weitere Beiträge aus unserer Serie "Wernigerode - auf dem Gipfel des Erfolgs?" finden Sie hier.