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Streuobst Warten auf die ersten Kirschen im Mai

Matthias Bosse bewirtschaftet bei Heimburg elf Streuobstwiesen mit 1250 Bäumen. Sein Traum: Ein Streuobstzentrum für Groß und Klein.

Von Julia Bruns 28.04.2019, 05:00

Heimburg/Langenstein l Schmetterlinge, Erdhummeln, Bienen und Käfer tummeln sich auf der Wiese. In der Abendsonne wirkt das Spiel der Kirschblütenblätter, die der Wind fortträgt, fast überirdisch. So muss es im Garten Eden ausgesehen haben – und exakt hier mit Blick auf den Regenstein in der einen und den Halberstädter Dom in der anderen Richtung, haben sich Annika und Matthias Bosse ihr persönliches Paradies geschaffen. Auf dem Jakob I und dem Jakob II links und rechts der Bundesstraße 81 steht nur ein Bruchteil der Obstbäume, die der Arzt und die Marketingexpertin unter dem biozertifizierten Label „Dr. Bosse Traditionsobst“ bewirtschaften.
Auch für das Paar und seine vier Angestellten hat die Gartensaison begonnen. „Dabei ist traditioneller Obstbau anders als Intensivobstbau mit Spalierobst, sehr pflegeleicht“, verrät Matthias Bosse. Es blüht allerorten auf dem hügeligen Areal und das über drei Monate verteilt beginnend mit Aprikosen Anfang März bis zu den Äpfeln bis Ende Mai. „Die ersten Kirschen werden Ende Mai, Anfang Juni geerntet“, sagt der Wernigeröder. Das letzte Obst sind die kleinen braunen Mispeln im Dezember kurz nach dem ersten Frost. „Den brauchen sie, damit sie weich werden.“
Die ersten Früchte der Arbeit in den Händen zu halten, sei einer der schönsten Momente im Gartenjahr. „Die Kirschernte an sich ist allerdings eher undankbar“, verrät Annika Bosse. Die gebürtige Berlinerin sei ein typisches „Kellerkind“, habe aber früh im Garten der Großeltern in Hoppegarten die Vorzüge eines Schrebergartens kennengelernt.
Da Streuobst je nach Sorte ziemlich hoch wachsen kann, sei das Handpflücken mit Leitern nur etwas für Schwindelfreie. „Dann schmerzt es umso mehr, dass im Supermarkt unsere kleineren Bio-Kirschen gegenüber den großen glänzenden aus der Türkei nicht bevorzugt werden“, sagt sie. Die Leute würden viel auf Optik geben. „Dabei sind wir wirklich bio, das heißt: Keine chemischen Substanzen, nicht mal Kupfer und Schwefel.“ Viele andere Bauern würden Schutzmittel im Rahmen des Erlaubten einsetzen.
Was die Bäume brauchen, seien Raum, Licht, passende Standorte und Böden, erklärt Matthias Bosse. „So bleiben sie gesund und es werden keine Krankheiten übertragen.“ Tote Bäume und der Grünschnitt werden bewusst stehengelassen als natürliche Rückzugsräume für nistende Vögel, Amphibien und Insekten. „Wir sind auf die Vögel angewiesen, weil sie die Schädlinge fressen“, sagt er.
Bienen aus den Wäldern kämen ganz von allein zu den saftigen Wiesen geflogen, wo vor allem alte Sorten wie die Sauerkirsche „Königin Hortense“, die „Köstliche von Charneux“ oder die „Muskatellerbirne“ erhalten werden, die in den Monokulturen der großen Obstplantagen keine Berücksichtigung mehr finden. 210 Apfel-, 35 Birnen-, 20 Pflaumen-, 20 Kirschen-, 20 Aprikosen- und Pfirsichsorten, 15 Sauerkirschen und sogar Quitten, Feigen und Wildobst wachsen und gedeihen unter dem prüfenden Blick des Arztes. „Es ist ein unglaublich schöner Gedanke, zu wissen, dass diese Bäume bleiben, wenn ich einmal nicht mehr auf der Welt bin.“ Brennbirnen werden beispielsweise bis 250 Jahre alt und tragen als Erwachsene bis zu 1000 Kilo Obst.
„Derzeit werden noch einige neue Bäume gepflanzt“, berichtet der Wernigeröder beim Rundgang über die Wiesen. Die Stämme der Pflanzen, die bereits im Winter gepflanzt wurden, werden weiß gestrichen. „Dann werden Manschetten um sie gelegt.“
Nur so seien sie vor den knabberlustigen Merinoschafen geschützt, die zur Mahd auf die Wiesen kommen. „Wir haben einen Beweidungsvertrag mit dem Merino-Herdbuchzuchtverein in Langenstein“, sagt er. Rasenmähen könne er sich so getrost sparen.
Zumeist auch Unkrautrupfen – nur nicht zwischen den Pflänzchen in der Baumschule. Dort veredelt Matthias Bosse mit Mitarbeiter Dieter Völker Obstbäume. Das ist mit ein wenig Bastelei verbunden: Auf eine robuste, starkwachsende Sorte, die nicht anfällig für Krankheiten ist, wird der Zweig einer schmackhaften Sorte gesetzt. Beide Schnittstellen werden mit Wachs verbunden. „Einen Apfelkern in die Erde stecken und irgendwann leckere Früchte ernten? So einfach ist es nicht“, sagt der ausgebildete Pomologe, zu deutsch Obstkundler. 2010 hat Matthias Bosse die fünf Hektar große Wiese mit Restbeständen an Streuobst erworben. „Die Bäume waren tot oder halbtot, das Gelände verbuscht und verfallen, als ich es 2011 von der Treuhand ersteigert habe“, erinnert er sich. Als Jungbauer sah er sich mit Naturschutzgesetzen, Baugesetzen, Förderrichtlinien der EU und des Landes, dem Seuchenschutz, berufsgenossenschaftlichen Regularien und Lebensmittelrecht konfrontiert. Aufgegeben hat er trotz der Flut von Vorschriften nicht.
„Die Grundidee, naturnahes Land zu bewirtschaften, reifte in mir schon seit der Wende.“ Die Erinnerung an die Kindheit bei seinem Großvater, der eine Wassermühle in Mahndorf besaß, habe eine wesentliche Rolle bei den Überlegungen gespielt. Bis 2018 kaufte er weitere acht Hektar ungenutzte Flächen. Gut 350?000 Euro hat er seit dem Kauf in die Streuobstwiesen investiert. „Es ist kein Hobby“, betont er.
„Streuobst bedeutet nicht Fallobst, und der extensive Streuobstanbau ist ein Paradebeispiel für Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft und wirtschaftlich betreibbar. Sofern man sich in Geduld übt“, sagt er. „Die Biobranche konzentriert sich rasant und der Biobegriff wird missbraucht. Daher stellen Regionalität und transparente Produktionsformen zukünftig wichtige Kriterien dar. Derzeit bemühen sich die deutschen Streuobstvermarkter um ein eigenes Qualitätssiegel.“ Abnehmer seien Privatpersonen, Hofläden, Supermärkte, Biomärkte, Kindergärten und Internate, aber auch bekannte Konditoreien, Brennereien, noble Hotels und Gaststätten.
Nächstes Ziel sei ein digitales Baumkataster, damit alle Mitarbeiter wissen, wo welcher Baum einen Schnitt, eine neue Umzäunung oder besondere Pflege bedürfe. Auf lange Sicht soll ein Streuobstzentrum auf dem Jakob I entstehen, wo sich Experten und die, die es werden wollen, über die besondere Form der Bewirtschaftung informieren können.