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Gestrandeter Zug Die Geschichten der Fremden

Zwei Gymnasiastinnen aus Wolmirstedt haben Geschichten der Insassen des Gestrandeten Zuges aus dem Jahr 1945 aufgeschrieben.

23.09.2019, 23:01

Wolmirstedt l Seit einem Jahr wird sie hochgewirbelt, die Geschichte rund um den gestrandeten Zug in Farsleben. Am 13. April 1945 wurden dort 2400 Juden nach einem Tag Stillstand befreit. Start des Zuges war das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen. Und obwohl der Verein „Gestrandeter Zug“ seit einem Jahr an der Aufarbeitung der Geschehnisse arbeitet, wissen viele Wolmirstedter immer noch nicht, was damals in Farsleben passierte. Zwei Gymnasiastinnen wollten das ändern.

Johanna Mücke und Lina Schmidt vom Kurfürst-Joachim-Friedrich-Gymnasium Wolmirstedt nahmen sich der Geschichten der Zeitzeugen und Hinterbliebenen an. In Kontakt mit dem Thema kamen sie durch die schulische Arbeitsgruppe zum gestrandeten Zug. Ihre Tutorin Karin Petersen, Vorstandsmitglied des Vereins „Gestrandeter Zug“, ermutigte sie zu einer Arbeit, die die Geschichten der Zeitzeugen aufrollt.

Der Schicksalstag 1945 hat die Biografien zahlreicher Menschen für immer verändert. „Es war uns wichtig, dass die Menschen auf den Bildern ihre Identitäten zurückbekommen“, sagt Johanna Mücke. Eine über 50 Seiten lange Arbeit zeugt nun von ihren Gesprächen und Recherchen. Da der Zug im April 1945 von Amerikanern befreit wurde, wurden auch die Englischkenntnisse der beiden gefordert.

Zudem besuchten die Spurensucherinnen mehrere Orte, die mit dem Ereignis in Verbindung stehen und für ihre Recherche unabdinglich waren. So waren sie an den Gleisen in Farsleben, auf dem Friedhof in Hillersleben sowie im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen zu Gast.

Für ihre Arbeit erhielten sie den Landespreis des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten. Bundesweit beteiligten sich knapp 5500 Kinder und Jugendliche bei der aktuellen Runde des Geschichtswettbewerbs und reichten insgesamt 1992 Beiträge ein. Diese standen unter dem Motto „So geht’s nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch“. Seit 1973 richten die Hamburger Körber-Stiftung und das Bundespräsidialamt den Geschichtswettbewerb aus, der auf eine gemeinsame Initiative des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und des Stifters Kurt A. Körber zurückgeht. Ziel ist es, bei Kindern und Jugendlichen das Interesse für die eigene Geschichte zu wecken, Selbstständigkeit zu fördern und Verantwortungsbewusstsein zu stärken.

Vier Monate lang gruben die Gymnasistinnen tief in der Geschichte vom April 1945, durchwühlten Chroniken und Geschichtsbücher und suchten weltweit nach den Zeitzeugen. Zwei Überlebende und zwei Angehörige trafen sie persönlich. Das Schicksal von neun Personen haben sie in der Arbeit aufgerollt. Die Geschichten haben die jungen Frauen berührt.

Eines der Treffen geht den Schreiberinnen nicht mehr aus dem Kopf: das mit Micha Tomkiewicz. In ihrer Arbeit schreiben sie über die Erlebnisse des damals Vierjährigen: „Alle drei überlebten das Lager, doch es war verständlicherweise eine furchtbare Erfahrung, auch für den erst vier Jahre alten Micha. Er erinnert sich an Schreie, verzweifelte Gesichter, rennende Menschen, andere Häftlinge, die Appelle und eine durchaus unangenehme Wahrnehmung der deutschen Sprache.“

Es sei oft die Sprache, die den Hinterbliebenen im Gedächtnis bleibe und schlimme Erinnerungen hervorrufe, so Johanna Mücke. Einen Gänsehautmoment hatten die beiden beim Besuch des Zeitzeugen Peter Lantos, der als Sechsjähriger in dem Zug saß, der später in Farsleben strandete. Als er im Wolmirstedter Gymnasium zu Gast war, sprach er die ersten Worte in deutsch. „Er hat die Sprache in Kindertagen gelernt, aber im Prinzip war es die Sprache des Feindes. Das war sehr berührend“, sagt Johanna Mücke.

Als sich die Gymnasistinnen mit dem heute 80-jährige Micha Tomkiewicz trafen, erlebten sie einen weiteren emotionalen Moment. „Seine Frau sagte zu uns, wie besonders es sei, dass wir alle an einem Tisch sitzen - obwohl wir damals doch verfeindet waren“, erinnert sich Johanna Mücke.

All diese Lebensgeschichten brachten die jungen Frauen auf Papier und sorgten dafür, dass die Geschichten nie wieder vergessen werden. „So etwas darf nie wieder passieren“, sagt Johanna Mücke. Darüber sind sich alle Beteiligten einig. Damit aus fremden Gesichtern auf den Bildern endlich Menschen mit Geschichten werden.