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Historisches „Die Realität viel zu spät erkannt“

Im Zuge der Eroberungen durch die Grande Armée wurde auf deutschem Boden im Jahr 1804 das Königreich Westphalen gegründet.

Von Sebastian Pötzsch 10.02.2021, 00:01

Groß Ammensleben. König wurde der Bruder Napoleons, Jérôme. Er erließ seinerzeit ein Dekret, dass bis in die Region um Magdeburg wirken sollte. Dieses Mal hält Wilfried Lübeck eine alte Urkunde in den Händen. Das auf handgeschöpftem Papier gedruckte Dekret ist schon etwas vergilbt und an den Rändern finden sich ein paar Wasserflecken. „Diese Verordnung stammt aus dem Jahr 1813, wurde von König Jérôme erlassen und regelt den Umgang mit Deserteuren“, erklärt der Historiker aus Groß Ammensleben.

„Zum Hintergrund: Am 7. Dezember 1807 ist auf deutschem Boden das Königreich Westphalen gegründet worden“, beginnt Wilfried Lübeck zu berichten. Dem vorausgegangen war die Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806, die die Preußen gegen die Grande Armée von Napoleon verloren. Im „Tilsiter Friedensvertrag“ vom Juli 1807 musste Preußen unter anderem sein Territorium westlich der Elbe für das neue Königreich Westphalen abtreten. „König wurde Jérôme, der Bruder Napoleons, der sich fortan mit ‚Hieronymus’, also ‚Herrscher’, betiteln ließ“, erzählt der Historiker. Der Monarch regierte von Kassel aus. Auch deutsche Adlige waren in der Regierung vertreten. „Jérôme hieß bald ‚König Lustig’, da er fast jeden Tag große Lustbarkeiten feierte.“

Dennoch hatte vor allem das Bürgertum Hoffnung auf ein besseres und erfolgreicheres Leben. „Hieronymus“ habe nämlich eine neue Verfassung auf den Weg gebracht, ein Parlament unter dem Motto „Gleichheit aller Bürger“ sowie das einheitliche metrische Maß- und Zahlsystem. „Im Parlament saß übrigens auch Johann Gottlob Nathusius, ein Großgrundbesitzer aus Althaldensleben beziehungsweise Hundisburg“, weiß Lübeck.

„Aber die Begeisterung für das neue System ebbte immer mehr ab“, berichtet der Groß Ammensleber weiter. So hat er folgenden Eintrag in der Chronik von Dahlenwarsleben gefunden: „Es wurde eine westphälische Armee errichtet. Es folgten sechs Jahre des Drangsals. Es wurde eine Kriegssteuer ausgeschrieben und Dahlenwarsleben musste 1600 Taler zahlen.“ Laut Wilfried Lübeck hat ein Haus zur damaligen Zeit etwa 150 Taler gekostet. Der Monatslohn für einen Gesellen habe etwa neun Taler betragen. Dabei habe der Franc oder der Franken, die neue französische Währung, dem Wert eines Talers entsprochen.

Und Lübeck zitiert weiter aus der Dahlenwarsleber Chronik: „Dazu mussten wir immer wieder Roggen, Heu und Hafer unentgeltlich an die Militärmagazine nach Magdeburg liefern. Auch mussten junge Leute für Frankreich nach Spanien und Österreich in den Krieg ziehen. 1813 aber gingen die Männer Stricke, Blumenthal, Heinze, Lange und Meinicke über die Elbe zu den preußischen Fahnen.“ „Aber schon im März 1808 hatte der preußische Offizier Friedrich von Katte mit Freiwilligen aus rund 60 Orten unserer Region einen Überfall auf das besetzte Magdeburg unternommen und dabei Stendal, Burgstall, Rogätz und Wolmirstedt passiert“, berichtet Wilfried Lübeck über den deutschen Widerstand.

Später, nämlich im Juni 1812, hatte Napoleon mit seinen Truppen Russland überfallen und kam geschlagen und unter hohen Verlusten wieder zurück. Derweil habe König Jérôme noch immer nicht die Realität erkannt. „Er hatte noch keine Probleme“, sagt der Historiker. Erst am 23. August 1813 reagierte der Monarch, rund sieben Wochen vor der Völkerschlacht bei Leipzig, die vom 16. bis zum 19. Oktober andauern sollte. So erließ der „Hieronymus“ das Dekret, welches den Umgang mit Deserteuren regelte, also mit deutschen Männern, die sich weigerten, für Napoleons Interessen in den Krieg zu ziehen. „Die fünf Artikel dieses Erlasses sollten eigentlich bis zum 12. Januar 1814 ihre Gültigkeit haben. Aber bereits am 20. Oktober musste Jérôme wegen der Niederlage bei Leipzig Kassel verlassen“, sagt der Historiker und fügt hinzu: „Wie hieß es doch in der jüngeren Geschichte: ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben’.“

„Übrigens: Die Orte Groß Ammensleben und Hillersleben fielen mit ihren Domänen an den französischen Marschall Michel Ney sowie an Marschall Catherine-Dominique de Pérignon“, berichtet Wilfried Lübeck weiter. Im Jahr 1810 brannte Groß Ammensleben zu 70 Prozent nieder, „weil ein betrunkener französischer Soldat beim Pferdefüttern eine Kerze fallen ließ.“