Altes Fest der Kreuzerhöhung in der Pretziener Sankt-Thomas-Kirche Auch ohne Sonne ist da ein Lichtstrahl
Seit rund 870 Jahren fällt jedes Jahr am 14. September um Punkt 19 Uhr ein Lichtstrahl direkt auf das Altarkreuz der Sankt-Thomas-Kirche in Pretzien. Vorausgesetzt die Sonne ist am Himmel zu sehen. In diesem Jahr war das nicht der Fall. Dennoch kamen Menschen in dem romanischen Gotteshaus zusammen, um sich das alte Fest der Kreuzerhöhung zu vergegenwärtigen, und das Phänomen des Lichts.
Pretzien/Gommern. Einen Tag später und alles wäre nach Plan verlaufen. Zumindest äußerlich. Doch am Dienstagabend kurz vor halb sieben hat der Regen, mit dem dieser 14. September begonnen hat, nicht aufgehört. Grau verhangen ist der Himmel über Pretzien, einem Ort slawischen Ursprungs östlich der Elbe, der seit dem vergangenen Jahr zu Schönebeck gehört. Jetzt läutet es diejenigen zusammen, die sich trotz fehlender Sonne auf den Weg gemacht haben in das kleine Kirchlein aus romanischer Zeit, das durch seine wunderschönen byzantinischen Wandmalereien bekannt geworden ist und durch seinen Musiksommer.
Am Ende sind es genau zwölf Besucher, die sich im Chorraum um den Altar unter der großen gemalten Christusfigur, sowie Maria und Johannes versammelt haben. Inklusive Pfarrer Andreas Holtz und Schwester Barbara aus dem zur Kommunität der Christusbruderschaft gehörenden Konvent in Magdeburg. "Soviele wie die zwölf Apostel", sagt Holtz später.
Still ist es in dem kühlen Gotteshaus, draußen dämmert es. Da tut es gut, dass drinnen Kerzen brennen. Still sind auch die Menschen, jeder kommt aus seinem eigenen Alltag. Dass heute hier kein "Lichtwunder" stattfinden wird, wissen sie alle. Nur bei Sonnenschein würde heute um Schlag sechs, nach Sommerzeit Punkt 19 Uhr, der Lichtstrahl genau auf das Altarkreuz fallen. Durch eines der beiden runden Turmfenster von hinten längs durch das gesamte Kirchenschiff. Eine ausgeklügelte Lichtregie, an der orientiert die mittelalterlichen Bauherren, die Prämonstratenser, das Gebäude um 1140 errichtet haben. Deshalb wichen sie um 16,3 Grad von der herkömmlichen Ost-West-Ausrichtung ab.
Der 14. September wird seit dem vierten Jahrhundert als christliches Fest der "Kreuzerhöhung" gefeiert. "An sich ist es katholischen Ursprungs", wie Pfarrer Andreas Holtz zur Begrüßung kurz erklärt. Der heutige Besucher staunt über das fein justierte Ineinandergreifen von Architektur, Wissen um Naturabläufe und Glaubensbekenntnissen einer Zeit, die von heute aus oft immer noch als "mittelalterlich" nicht nur bezeichnet, sondern belächelt wird. Noch mehr solcherart himmlische Dramaturgie ist in der Sankt-Thomas-Kirche zu finden: Zum Johannitag, dem 24. Juni, steht die Johannesfigur im natürlichen Scheinwerferpegel.
Wiederentdeckt hatte die Sache mit dem Kreuz der Pfarrer im Ruhestand, Rüdiger Meussling, gemeinsam mit seinem treuesten Helfer bei der Rettung der Kirche, Vater Kersten. Durch "Zufall", als die beiden Männer von der Arbeit ausruhten.
"Ich hätte das heute selbst gern gesehen", sagt Schwester Barbara, die vor zwei Jahren aus dem Fränkischen in die hiesige Region gekommen ist. Das Schwesternkonvent in der Landeshauptstadt ist die weibliche Entsprechung zur Kommunität der Brüder auf dem Petersberg bei Halle. Doch heute geht es wohl um etwas anderes, um inwendiges Licht. Gemeinsames Singen und Beten, Klänge aus dem bekannten Kloster Taizé, Worte von Dietrich Bonhoeffer oder aus dem Alten Testament, das noch ältere Ägypten zitierend. Und am Boden, auf dem Teppich vor dem Altar: ein weißes Kreuz aus Stoff. "Was ist es, was in meinem Leben Licht braucht?", fragt Schwester Barbara, erhebt sich, zündet an der großen Osterkerze neben dem Altar ein kleines Teelicht an, steckt es in ein Glasgefäß und stellt dieses behutsam auf den weißen Stoff Wer will, tut es ihr nach. Zögernd oder entschlossen, nachdenklich oder nüchtern. Genau jetzt ist es 19 Uhr, Sommerzeit, an sich wäre es sechs. Jetzt müsste das Kreuz erleuchtet sein. Auch ohne, dass es äußerlich sichtbar wäre, hat sich im Raum etwas verändert. Das Ritual, gemeinsames Tun und Erleben, haben aus Fremden eine kleine Gemeinschaft gemacht. Menschen, die gemeinsam für einen Moment innegehalten haben. Selten in unserer vielbeschäftigten Zeit.