Herr der Lüfte Fliegen hat man im Blut
Hans-Günter Seidler aus Badewitz ist seit 20 Jahren mit Leidenschaft Vielflieger. Und ist wohl einer der beliebtesten Piloten in Zerbst.
Zerbst l Da gibt es die, die schon in der Kindheit und Jugendzeit vom Fliegen träumen. Nur wenige sind es, die sich ihren Traum dann auch verwirklichen, ob beruflich oder privat. So einen Traum vom Fliegen hatte Hans-Günter Seidler nie. „Ich bin ein atypischer Vertreter“, sagt er, „ich hatte damit nichts am Hut.“ Der 66-Jährige erinnert sich lediglich, dass er das Thema Fliegerei das erste Mal bewusst wahrgenommen habe, als es für seinen Bruder in der elfte Klasse um die Orientierung ging. Er selbst war da in der neunte Klasse. Doch das zerschlug sich. „Als DDR-Tourist bin ich dann später mal mit der Linie geflogen“, erzählt er weiter.
Für den Diplom-Ökonom, der seit 2010 in Badewitz zu Hause ist, rückte die Fliegerei erst zehn Jahre nach der Wende auf den Plan. Alles begann mit einem „verhängnisvollen Auftrag“. Zu der Zeit war Seidler als Baggerfahrer unterwegs. Auf dem ehemaligen Zerbster Militärflughafen sollte er verschiedene Arbeiten für den Luftsportverein Zerbst erledigen, der sich 1999 gegründet hatte. Soweit so gut, am Ende sprang für Seidler dabei ein Rundflug heraus und das Angebot, den Pilotenschein zu machen. „Das musste ich erst mal sacken lassen“, blickt er zurück, da die Kosten für die Lizenz und das Fliegen sein Budget übersteigen würden. „Ich habe in Ruhe darüber nachgedacht“, so Seidler.
Der Rundflug sei schön gewesen. Um seine Flugtauglichkeit zu prüfen, machte Roland Prokop, der Vorsitzende des Luftsportvereins und Ausbilder, einen Testflug mit ihm mit der 172-er Cessna. Den Kurvenflug in 60 Grad Querneigung rechts und links im Vollkreis, musste der Kandidat „bestehen“. „Den Druck kann nicht jeder ab“, erläutert Seidler, den das überhaupt nicht gestört hat, „ich habe das gar nicht mitgekriegt.“
2000 fing er mit dem Pilotenschein an. Am Anfang steht wie überall die Theorie an, bevor es auf den Platz geht. Dann beginnen die Piloten in spe mit den Platzrunden. Landen, landen, landen – das A und O beim Fliegen. Liegen die Trümmer geordnet in Landerichtung, gilt die Landung als gelungen, haben die Flieger ihren eigenen Humor. Für den Freiflug ist dann die bestandene Theorie sowie das Sprechfunkzeugnis Voraussetzung. Viele Anwärter brauchen oft mehr als 100 Ausbildungslandungen, bis sie soweit sind. Bei Hans-Günter Seidler reichten 40, dann wurde ihm bescheinigt „der kann das“.
Nun mussten eine bestimmte Anzahl von Flugstunden abgeleistet werden mit den verschiedensten Aufgaben. Dass Seidler nichts aus der Ruhe bringen konnte, wurmte seinen Fluglehrer. Einmal imitierte dieser einen Motorausfall, nahm einfach das Gas weg bis fünf Meter über dem Boden. Doch auch damit war der Flugschüler nicht zu beeindrucken. Am letzten Tag der Ausbildungszeit – die darf zwei Jahre nicht überschreiten – war schließlich Prüfungsflug. Wetterbedingt wäre fast nichts daraus geworden. Nach Aschersleben ging die Reise, ohne den Platz vorher einmal angeflogen zu sein. Pilotenschein bestanden!
Dann ergab es sich, dass der Zerbster Luftsportverein eine Fallschirmspringerabsetzmaschine anschaffte. Zunächst waren einige der Zerbster Piloten ganz scharf darauf, die Maschine zu fliegen, bis sich herausstellte, dass das doch nicht so der Traumjob war, vielmehr harte Arbeit und meist am Wochenende geflogen werden musste. Da musste dann der Seidler ran. Die Maschine wurde bald überall hin vermietet.
Zum Fallschirmwochenende in Dessau war Seidler manchmal neun Stunden am Sonnabend – 18 Lifte á 30 Minuten – und für weitere zehn Lifte am Sonntag noch einmal fünf Stunden in der Luft. Das macht 32 Landungen und 14 Flugstunden an einem einzigen Wochenende. Piloten müssen in der Regel gerade mal zwölf Flugstunden im Jahr nachweisen. „Fliegen lernt man nur durch fliegen“, sagt Hans-Günter Seidler, „ich war nur noch in der Luft, an den Wochenenden und in der Woche.“
Mit den Flugstunden kamen die Erfahrungen – mit den Winden, mit den Wolken. Als Pilot muss man das Wetter im Auge haben. Das ist immer das Erste am Morgen – die Gesamtwetterlage checken: „Ich muss wissen, was am Himmel passiert, womit muss ich rechnen?“ Immerhin könnte jeden Moment ein Anruf kommen. Nunmehr im beruflichen Ruhestand steht Seidler, der seit 2019 Ortsbürgermeister von Straguth ist, auf Abruf, wenn ein Pilot gebraucht wird. Blauer Himmel und ein leichter Wind sind das ideale Flugwetter. Wenn die Bedingungen nicht passen, müsse man auch sagen, ich fliege nicht. Der Pilot muss das verantwortungsvoll entscheiden.
Bei jedem Flug ist die Vorbereitung das Wichtigste, macht Hans-Günter Seidler deutlich. Nicht nur über das Wetter muss man Bescheid wissen, auch mit dem Auftrag an sich und dem Ziel sollte man sich auseinandersetzen. Jeder Landeplatz hat seine Eigenheiten, manchmal sind Stromleitungen beim Anflug zu beachten, manchmal liegt der Platz in einem bewohnten Gebiet, manchmal auf einem Berg etc. Sich die Aufgabe klar machen, das hat ihm sein Fluglehrer von Anfang an mit auf den Weg gegeben. Seidler hatte längst bewiesen, dass er das Händchen zum Fliegen hat. Und so war er gefragt, als vom Anhaltischen Verein für Luftfahrt Dessau der Ruf nach einem AN2-Piloten kam. Der Zahn hatte ihm schon getropft, als eine solche Maschine den Winter über in einem Hangar auf dem Zerbster Flugplatz gestanden hatte. 50 Stunden waren nötig, um die Antonow AN-2, die mit über 18 Metern Spannweite der größte im Einsatz befindliche einmotorige Doppeldecker der Welt ist – als Pilot zu fliegen. „Die kamen in einer Saison zusammen“, so Seidler, und schon im nächsten Jahr war er voll im Einsatz, da die anderen beiden Piloten, die die Maschine fliegen konnten, ausfielen. Das war 2007/2008.
In der Folge war der Zerbster viel unterwegs auf der AN2. Die Maschine war gefragt für Rundflüge zu diversen Flugplatz-, Stadt- und anderen Festen, unter anderem in Bayern. Doch nicht nur die Dessauer AN2 flog Seidler. Es ergab sich zwischenzeitlich, dass er auch noch eine private AN2 fliegen durfte. Mit der internationalen Lizenz in der Tasche, flog Seidler nach England, Schweden, Polen, Littauen – entweder im Auftrag oder zu den internationalen AN2-Treffen.
Erzählen kann Hans-Günter Seidler spannende Geschichten von seinen Flügen. Zum Beispiel von seiner weitesten Strecke 2009 nach Saudi-Arabien. Eine Magdeburger Maschine war in den Wüstenstaat auf der arabischen Halbinsel verkauft worden. Der Saudi wollte ein Fallschirmspringerzentrum bei Dschidda einrichten. Hans-Günter Seidler wurde engagiert, die AN2 zu überführen. Einen Russen bekam er als Co-Piloten an die Seite. Zum Glück kann sich Seidler sowohl in Englisch als auch in Russisch verständigen.
Der Flug wurde zum Abenteuer, das wohl Stoff für einen Film oder ein Buch bieten würde. Das Nachbeben beim Zwischenstopp in Apulien war da noch eher harmlos. Der ursprüngliche Flugplan konnte nicht eingehalten werden. Von Heraklion auf Kreta sollte es eigentlich nach Amman in Jordanien gehen. Die Isrealis forderten jedoch mit Nachdruck die Maschine auf, ihren Luftraum zu verlassen. Das ging soweit, dass sie bereits ihre Jagdflieger hinterher schickten. Einige Bestimmungen mussten die beiden Piloten unterwegs missachten. Es gab Probleme beim Tanken, die Reisekasse reichte nicht. Ein technisches Problem musste gelöst werden. Improvisieren war angesagt. Einiges lief anders als geplant, und der russische Begleiter reagierte immer wieder nicht mit der gebotenen Ruhe, was in den misslichen Situationen des Fluges nicht hilfreich war.
Cairo Control schien die AN2 zunächst nicht zu hören, ein italienisches Verkehrsflugzeug half aus. Erleichterung als sie dann endlich mit „Salam aleikum“ begrüßt wurden. Kairo in der sinkenden Restsonne zu sehen, war die Entschädigung. „Dann war alles schwarz“, erinnert sich Hans-Günter Seidler. Während über Deutschland nachts Tausende Lichtpunkte zu sehen sind, gibt es keine Lichter über der Wüste. Das nächste waren dann die gelb beleuchteten Sehenswürdigkeiten von Luxor. Das Rote Meer blieb ebenfalls schwarz wie die Nacht, bis es am Horizont hell wurde.
Das konnte noch nicht der Sonnenaufgang sein, wunderten sich die beiden Piloten. Es war das hell erleuchtete Dschidda, dass sich 40 Kilometer an der Küste erstreckt in einem Land, in dem Energieverbrauch keine Rolle spielt. „Wir hatten noch für 25 Minuten Sprit“, erzählt Seidler. Eine Ehrenrunde hätte man nicht mehr drehen können. 23.30 Uhr Landung. Überführung geglückt und mit elf Stunden hatte Seidler wohl den Rekord im Langstreckenflug mit der AN2 aufgestellt.
„Der Saudi war völlig happy, uns doch noch zu sehen“, kann Seidler das Abenteuer Saudi-Arabien fortsetzen, denn ohne Visum blieben ihm eigentlich nur 48 Stunden in dem Land. Ein Sonderausweis wurde ihm ausgestellt. Der Deutsche sollte schließlich zwei F16-Kampfpiloten mal schnell beibringen, die AN2 zu fliegen. Doch die beiden warfen gleich das Handtuch. Aus sechs Tagen wurden für Seidler am Ende 24. Dass er in den Flieger nach Hause steigen konnte, verdankte er der Bekanntschaft des Enkels vom saudischen König, dem er das Flugzeug gezeigt hatte.
„Captain Hans“, wie er bei den Saudis vorgestellt wurde, kehrte noch ein paar Male auf die arabische Halbinsel zurück, um die Fallschirmspringer in die Luft zu bringen, bis dem Betreiber dort das Geld ausging. Jahrelang konnte er auf Google Earth noch die AN2 stehen sehen, wo er sie zurückgelassen hat. Flugfähig dürfte sie nicht mehr gewesen sein in dem Wüstensand.
Weiter ging es für Hans-Günter Seidler mit den Flügen für den Zerbster Luftsportverein und den Dessauer Luftfahrtverein. Auch zur Anastasia aus Rheinsdorf blieb der Kontakt. Er wurde engagiert, um ein Stuntteam für einen Werbefilm mit Tennisstar Novak Djokovic zu fliegen. Dabei musste er dann gleich selber mitmachen, so dass er im Film, bei dem Tennis in der Luft auf den Tragflächen gespielt wird, als Pilot zu sehen ist. Dieser Werbefilm für einen Tennisschläger ist immer noch bei Youtube zu sehen.
Hätte Seidler die Wahl zwischen den verschiedenen Kleinflugzeugen und der AN2, würde er letztere bevorzugen. Gab es vor zehn Jahren noch 24 in Deutschland zugelassene Maschinen, dürfte deren Zahl heute deutlich unter 20 liegen. Jedes Jahr ist der Badewitzer bei den internationalen AN2-Treffen dabei. Vor zwei Jahren hatte er es in Zerbst organisiert. In diesem Jahr sollte es wieder in Deutschland stattfinden, aber Corona kam dazwischen.
Auch bei den letzten Rundflügen über Zerbst mussten die Mund-Nasenschutzmasken getragen werden. Hans-Günter Seidler hat inzwischen mehr als 1950 Flugstunden auf seinem Konto. Über 500 davon mit der AN2. Auf zwei Kleinflugzeuge ist er als Pilot eingetragen mit der Lizenz für Wartungsarbeiten. Den Kunstflugschein zu machen, das wäre noch so ein Traum von Seidler. Derweil hat er schon mal im Helikopter getestet und war auch da überrascht, das Teil ohne weiteres halten zu können. „Fliegen hat man im Blut oder nicht“, sagt er und hofft noch einige Jahre in die Lüfte gehen zu können. Wer ähnliche Ambitionen hat, kann sich ja beim Zerbster Luftsportverein erkundigen. Der Verein ist einer der wenigen im Land, der Piloten ausbildet. Auch wer einen Rundflug machen oder zu einem besonderen Anlass verschenken will, ist hier richtig.