Landrat Finzelberg lobt Zusammenspiel der Einsatzkräfte / Schaden über drei Millionen Euro Hochwasser 2013: "Das Jerichower Land war unsere Burg und die haben wir verteidigt"
Zwischen drei und 3,5 Millionen Euro wird der Schaden im Jerichower Land, den das Hochwasser 2013 verursachte, beziffert. Zwischen dem 4. und 17. Juni galt im Kreis der Katastrophenalarm. Redakteur Tobias Dachenhausen sprach mit Landrat Lothar Finzelberg über die zahlreichen Helfer, bewegende Momente, schwierige Entscheidungen und Manipulationsgerüchte.
Volksstimme: Herr Finzelberg, das Hochwasser liegt knapp zwei Monate zurück. Sie waren an vielen Stellen persönlich vor Ort. Gibt es Momente, die ewig in Erinnerung bleiben?
Lothar Finzelberg: Da gibt es einige. Mal sind es bekannte Personen in ungewohnten Situationen, wie in Lostau als am frühen Morgen um 5 Uhr Rechtsanwalt Hartmut Meyer vor mir stand, und am Umschlagplatz als Einweiser arbeitete. Oder auch einfach lachende Gesichter, wie die der beiden Feuerwehrkameraden Strübing und Hering, die am Morgen noch fix und fertig waren. Als am Mittag die Situation in Lostau im Griff war, kamen sie zu mir und sagten: ¿Landrat, das hat geklappt.\' In Jerichow auf der B 107 habe ich Landwirten mit Traktoren die Durchfahrt Richtung Fischbeck durch eine Polizeisperre ermöglicht. In der Schaufel eines Radladers standen einige Helfer - ein Bild, was sich eingeprägt hat. Auch die Luftbilder werde ich nicht vergessen.
Volksstimme: Wie hat der Landkreis das Hochwasser überstanden?
Finzelberg: Das Jerichower Land ist insgesamt glimpflich davon gekommen. Das ist aber das Ergebnis der intensiven Arbeiten seit 2002. Über 30 Millionen Euro sind seitdem in den technischen Hochwasserschutz geflossen. Durch zuvor mit Fachleuten des LHW und zwei Ingenieurbüros erarbeiteten Überflutungsszenarien wusste ich, dass wenn ein Deich bricht, darf man den Hochwasserscheitel nicht linear in der Fläche fortschreiben, sondern in jedem Einzelfall gegen das Wasser vor den Orten und Häusern kämpfen. Ein paar sehr wichtige Ereignisse müssen rückblickend hervorgehoben werden. Dazu gehört, dass es uns gelungen ist, zwei Deichdurchbrüche in Hohenwarthe und Jerichow komplett zu schließen. Dann, dass die Aktion Fischbeck durch Kräfte des Jerichower Landes von Jerichow aus gelaufen ist. Zudem haben wir es geschafft, die Wuster Region zu retten, die ja vom Krisenstab des Landes evakuiert und somit aufgegeben werden sollte, wo ich mich dann durchsetzen konnte, dass dort Hab und Gut der Bevölkerung geschützt wurde. Das mindert nicht, dass wir von Gommern bis Jerichow auch gewaltige Kämpfe hatten. Das Jerichower Land war unsere Burg und wir haben sie verteidigt.
Volksstimme: Welcher Gesamtschaden ist im Kreis entstanden?
Finzelberg: Der Schaden liegt zwischen drei und 3,5 Millionen Euro. 1,48 Millionen Euro wurden bereits an die Gemeinden ausgezahlt. Das ist aber nur der Schaden, der uns als Landkreis und den Kommunen entstanden ist. Private Schäden fallen hier nicht drunter, nur die Soforthilfen, die bereits ausgezahlt wurden.
Volksstimme: Warum wurde der Termin für das Ausrufen des Katastrophenfalls kurzfristig doch vorverlegt?
Finzelberg: Ursächlich dafür waren Gespräche mit Karla Michalski und Kay Gericke in Gerwisch und Biederitz. Es war mir wichtig, dass Deicherhöhungen professionell durch Firmen gemacht werden. Die vielen Kilometer Deicherhöhungen per Hand und Sandsack vorzunehmen, hätte zu viel Zeit gekostet und wäre auch nicht sicher genug gewesen. Darum habe ich den Kat-Fall am 4. Juni um 18 Uhr ausgerufen. Damit war auch eine Klärung verbunden, dass diese Deicherhöhungen finanziell vom Landkreis getragen wurden. Für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen sprachen für mich die Prognosen, dass wir die Werte von 2002 um 50 Zentimeter übersteigen.
Volksstimme: Lostau hat es dieses Mal schwerer getroffen. Hat hier der Einsatz und die Koordinierung jederzeit geklappt?
Finzelberg: Bereits in der Nacht waren hier Bauunternehmen der Region tätig, die mit schwerer Technik Hilfsdeiche errichtet hatten, die mit enormer Unterstützung durch die Bundeswehr ausgebaut und befestigt wurden. In den frühen Morgenstunden waren die Einsatzkräfte dann aber am Bahndamm vor Alt-Lostau der Meinung, es drohe durch die Durchnässung und der bereits stattfindenden Überspülung ein Abrutschen und man könne den Deich nicht mehr halten. In Abstimmung mit Herrn Jährling (LHW) und Herrn Grodde (Wasserwehr Lostau) habe ich entschieden, dass nicht das Alte Dorf mit der Seniorenresidenz evakuiert wird, sondern wir den Deich weiter verteidigen. Gegen Mittag waren alle stolz, dass es geklappt hat. Ansonsten wäre die Evakuierung unvermeidbar gewesen.
Volksstimme: Gibt es in Zukunft für Alt-Lostau mehr Schutz?
Finzelberg: Nein, da wird es keine Schutzmechanismen geben. Alt-Lostau bleibt eine vom Hochwasser gefährdete Region. Dennoch halten die Einwohner zu ihrem Ort. Wer abreißen muss, will neu und höher bauen. Es sollte daher geprüft werden, welche weiteren Schutzmaßnahmen sinnvoll sind.
Volksstimme: Wie konnte es in Niegripp/Hohenwarthe an der Schleuse zu dem Desaster kommen?
Finzelberg: Angefangen hat es damit, dass gesagt wurde, dass der Deich überspült wird. Aber das wäre nicht so schlimm, da der Bahndamm das Wasser aufhalten würde. Das Wasser ist aber dann bis in die Kiesgruben gelaufen, bis eine in Richtung Schleuse und Landesstraße 52 nachgegeben hat. So, dass es zu einer Sturmflut kam. Es war eine Art Deichbruch, aber innerhalb des Territoriums. Vielen war unklar, was geschehen ist, doch in das Gebiet konnte man nicht mehr rein. Da hat mir die DLRG aus Mecklenburg-Vorpommern geholfen, so dass ich über die Elbeflut an das Hinterland und von dort die Lage erkunden konnte. Dort sahen wir, dass der Eisenbahndamm auf 30 Metern offen war, und so immer weiter Wasser ins Hinterland floss. Danach war es ein beispielhaftes Zusammenwirken der Einsatzkräfte von Bundes- und Wasserwehr sowie den Mitgliedern der DLRG aus Bad Doberan und Neustrelitz. Nur so konnten wir es schaffen.
Volksstimme: Was sagen Sie zu den Gerüchten, dass dort etwas manipuliert worden sein soll?
Finzelberg: Ich denke, die eigentlich Ortskundigen waren sich einfach nicht im Klaren, wie die Situation ist. Der Zustand des Eisenbahndamms musste erst recherchiert werden. Absichtlich hat niemand die Überflutung gewollt oder herbeigeführt. Diese Gerüchte entbehren jeder Grundlage. Dass es gelungen ist, größere Schäden an den Häusern der Siedlung zu verhindern, ist denjenigen zu verdanken, die auf der L 52 so schnell gehandelt haben.
Volksstimme: Was musste zur Wiederinbetriebnahme der Schleuse gemacht werden?
Finzelberg: Die Schleuse ist seit dem 20. Juli wieder funktionstüchtig. Damit die Schleuse wieder benutzt werden konnte, wurden knapp 30000 Kubikmeter Sand aus dem Kanal ausgebaggert. Bis November soll auch die Landesstraße wieder hergestellt sein. Alleine für die Beseitigung der dortigen Schäden schätzt man die Kosten auf 700000 Euro.
Volksstimme: Gibt es im Nachgang auch Bemühungen im Bereich des Elbe-Havel-Kanals etwas zu ändern?
Finzelberg: In bestimmten Bereichen sind die Ufer schon als Windschutz erhöht. Eine durchgängige Erhöhung ist allerdings auch in Zukunft nicht vorgesehen. Man rechnet weiterhin damit, dass ein Wassermanagement über die Schleusen dazu dient, eintretendes Wasser ausreichend abzuleiten. Für die Elektroenergieversorgung der gesamten Stadt Burg war auch die Sicherheit des Umspannwerks entscheidend. Hier wurde ebenfalls ein fester Damm errichtet. Das war richtig, man sollte aber hier wegen der Nähe zum Kanal über einen permanenten Schutz nachdenken.
Volksstimme: Was wird mit dem Sommerdeich bei Gerwisch?
Finzelberg: Die Erhöhungen werden wieder entfernt. Dann sind grundsätzliche Entscheidungen in allen Fällen notwendig, wo Deiche oder Hilfskonstruktionen, wie der alte Bahndamm von 1843 als Deiche fungieren und nicht ausreichend sicher sind.
Volksstimme: In Schartau musste ein Deichabschnitt kurzfristig aufgestockt werden, weil sich Pegelvorhersagen änderten. Wie kann es eine bessere Vorhersage geben?
Finzelberg: Ich habe die öffentliche Kritik nicht verstanden. Die Aussagen waren eindeutig. Wir wussten, was passiert. Wir hatten mit den beiden Flussbereichen und dem LHW eine sehr gute Zusammenarbeit.
Volksstimme: In Ferchland ist der Notdeich gebrochen und überspült worden. Wie schätzen Sie die Situation hier ein?
Finzelberg: Hier wurde versucht, zu schützen. Das war sehr ehrenwert. Es hat leider nicht geklappt. Zukünftig weiß man, wie man einen solchen Hilfsdeich besser bauen kann. Die Verantwortlichen vor Ort haben ihr Bestes gegeben.
Volksstimme: In Jerichow gab die Wand an einer Stelle der mobilen Deichanlage nach. Der Schlauchdeich musste erhöht werden. Was lief hier falsch?
Finzelberg: Diesen Fehler hat das LHW schon auf seine Kappe genommen. Das wird sicher so in Ordnung gebracht, dass es nie wieder passiert. Wichtig war, dass vor Ort gekämpft wurde, so dass der Deich wieder geschlossen werden konnte.
Volksstimme: Sie mussten einige knifflige Entscheidungen treffen: Diskutiert wurden vor allem das Erschießen der Biber und die Nottötung von Rindern im Bucher Brack. Nun hat der Landkreis Anzeige gegen Peter Neuhäuser vom NABU-Kreisverband Stendal erstattet.
Finzelberg: Seit Ende Juli liegt die Anzeige im Umfang von 80 Seiten bei der Staatsanwaltschaft Stendal. Der Landkreis hat gründlich alles noch einmal aufgearbeitet. Hier haben in der Öffentlichkeit Rechtfertigungsversuche stattgefunden, die ich aus der Aktenlage nicht nachvollziehen kann. Unter Kritik von Anfang an standen die festen Einzäunungen, die auch ein Bulle nicht umreißen kann. Dass das dem Hochwasserschutz widerspricht, diesen Streit haben wir ja schon seit Jahren mit dem NABU. Zudem musste bei den aufgeweichten Deichen jede Schwachstelle vermieden werden. Dazu mussten eben auch Biber erschossen werden. Das wurde verantwortungsbewusst vor Ort eingeschätzt, dass es nicht möglich war, diese zu vertreiben. Der Schutz von Menschenleben musste im Vordergrund stehen.
Volksstimme: Sie haben beim Ramsauer-Besuch eingefordert, dass das geplante Überflutungsgebiet Bucher Brack mit der Deichrückverlegung nun schneller umgesetzt wird. Gibt es hier neue Informationen?
Finzelberg: Der Landesbetrieb denkt, dass es bei Klietznick bis 2015 klappen könnte. Und zu Hohenwarthe gibt es auf meinen Vorschlag noch keine Reaktion.
Volksstimme: Ihren Vorschlag?
Finzelberg: Ich habe dem LHW die Unterlagen zum Bahndamm zur Verfügung gestellt, mit der Anregung diesen zum Deich zu machen. Die Öffnung muss aber zu, dann gebe es keine einfachere Lösung. Ein Deich an einer anderen Stelle würde zudem eine große Zahl von Grundstücksbesitzern treffen, während der Bahndamm nur ein selbstständiges Flurstück ist. So könnte man das Thema zügig erledigen.
Volksstimme: Der Kreis hat Stendal im Krisengebiet Elbe-Havel-Winkel massiv unterstützt. Wie ist es aus Ihrer Sicht gelaufen?
Finzelberg: Da wäre ein besserer Kampf gegen das Hochwasser möglich gewesen, wenn es diese Kreisgrenze nicht gegeben hätte. Hilferufe kamen sehr schnell aus der Wuster Region, aus Melkow aber auch aus Fischbeck und Schönhausen. Hier hat sich deutlich gezeigt, dass Kreisgrenzen, die sich nicht nach territorialen, natürlichen Gegebenheiten richten, irgendwann ein Problem sind. Und die Elbe ist nun mal eine Grenze, gerade dann, wenn sie massiv Hochwasser führt.
Volksstimme: Warum kam es hier zu einer Meinungsverschiedenheit mit dem Landesstab?
Finzelberg: Nachdem ich endlich am 13. Juni die Verantwortung bekommen habe, war ich vor Ort. Wir haben entschieden, dass hier nicht evakuiert, sondern das Hab und Gut der Menschen gerettet wird. Daraufhin meinte der Krisenstab des Landes, mich korrigieren zu müssen. Ich habe mich nicht beirren lassen und denke, dass meine Entscheidung richtig war. Der Stendaler Landrat hat sich ausdrücklich bedankt. Man kann nicht einfach sagen, alles wird flächendeckend evakuiert und keiner ist mehr da, der sich dem Hochwasser entgegenstemmt.
Volksstimme: Was wäre denn passiert, wenn man den Anweisungen des Landesstabes nachgekommen wäre?
Finzelberg: Dann wären die Schäden in den Orten noch deutlich größer aufgetreten. Wir haben dafür gesorgt, dass große Teile der Orte trocken geblieben sind.
Volksstimme: Der Sachsen-Anhalt-Tag in Gommern wurde nicht verschoben, sondern als Dankeschön-Veranstaltung für die Helfer modifiziert. Richtige Entscheidung?
Finzelberg: Das war unbedingt richtig. Hier hat sich eine exakte Vorbereitung der Stadt Gommern, des Landkreises und dem Land ausgezahlt. Insbesondere die Konzepte zur Sicherheit haben alle gegriffen. Die Befürchtung, dass es in so einer kleinen Stadt nicht geht, wurden entkräftet. So konnte ein Fest über die Bühne gehen, wo die Menschen abgelenkt und fröhlich waren. Es ist bezeichnend, dass es nur einen Zwischenfall in drei Tagen gegeben hat.
Volksstimme: Welche Lehren zieht der Landkreis aus der jüngsten Katastrophe?
Finzelberg: Wir müssen unsere Arbeit so konsequent weiterführen, wie wir das schon in den vergangenen zehn Jahren gemacht haben. Wir kennen die Schwachpunkte und wissen, wo was geändert werden muss. Das Siel in Gerwisch hat wunderbar funktioniert. Beim neuen Deich in Gübs gab es nie Probleme. Die bisherige Arbeit hat sich also schon bezahlt gemacht. Zusammen mit den Unterhaltungsverbänden und den Städten und Gemeinden werden wir nun weiter dort anpacken.
Volksstimme: Wo wird denn als erstes angesetzt?
Finzelberg: Ich werde auf jeden Fall an der Geschichte in Hohenwarthe/Niegripp dranbleiben. Das liegt zwar in der Verantwortung des LHW, die sich meiner Unterstützung gewiss sein können, aber es wird eine fordernde Unterstützung sein. Weiterhin brauchen wir dauerhafte Lösungen in Gommern und Lostau.
Volksstimme: Wie haben Sie die Unterstützung der freiwilligen Helfer erlebt?
Finzelberg: Ich war darüber ehrlich gesagt überrascht. Gerade mit Hilfe der neuen Medien wurde vieles aus dem Hintergrund organisiert. Was zum Beispiel Thomas Barz als Bürgermeister von Genthin geleistet hat, war überragend. Auch die Aktivität der Fluthilfe Parey kann man nicht genug wertschätzen. Es berührt mich immer wieder, wenn ich an die Leute denke, die mit Fahrrad oder zu Fuß aus allen Richtungen kamen, um am Jerichower Bahnhof mitzuhelfen, Steine für Fischbeck in die Big Bags zu laden. Es war einfach fantastisch!