Anhalt-Bitterfelder Kappungsgrenzen nicht gerichtsfest, dennoch ständig Bescheid-Grundlage KdU-Klagen beschäftigen Sozialgerichte
Vielen ALG II-Bedarfsgemeinschaften in Anhalt-Bitterfeld werden geringere Unterkunftskosten zugebilligt als juristisch möglich. Permanent wird vor Sozialgerichten hierzu verhandelt.
Zerbst l "Vorher war ich noch nie vor Gericht. Ich streite mich nicht gern." Peter Braune, 62 Jahre, lebte bis zum Sommer 2006 mit Frau und Tochter in einer schönen Dreiraumwohnung in Zerbst. "Die Miete hat gepasst, die Kosten auch, ich brauchte nichts zuzahlen." Seit 2005 sind Braunes eine ALG II-Bedarfsgemeinschaft, beziehen unter anderem Kosten der Unterkunft. Als die Tochter auszog, wurde die Wohnung unangemessen groß. "412,25 Euro monatlich mit Nebenkosten kalt", so Braune. Es wurde schwierig: Die Kommunale Beschäftigungsagentur sieht gemäß der hier gebräuchlichen Handreichung des Landkreises zur Angemessenheit von Wohnraum für eine zweiköpfige Bedarfsgemeinschaft 336 Euro vor. 5,60 Euro kalt inklusive Nebenkosten bei 60 Quadratmetern Wohnfläche. "Umziehen in was Kleineres? Für die Zeit bis zur Rente? Und dann könnte ich mir die Wohnung wieder leisten, bekomme sie aber nicht zurück? Nee." Die Familie lebt auf Sparflamme.
Was ist angemessen?
Seit 2009 vertritt die Zerbster Rechtsanwältin Corinna Brüggemann Familie Braune. "Bei etwa der Hälfte meiner Klienten kommt nebenbei heraus, dass sie weniger Unterkunftskosten erstattet bekommen als ihnen zusteht." So auch bei Braunes, die wegen einer Erbschaftsangelegenheit die Kanzlei aufsuchten. "Die Familie hat Anspruch auf 380 Euro Kaltmiete-Erstattung", sagt sie. Und stützt sich damit auf die gängige Rechtsprechung der Sozialgerichte. "Die Jobcenter im Land wissen ganz genau, dass ihre Festlegungen zur Angemessenheit von Unterkunftskosten nicht gerichtsfest sind. Und nutzen sie dennoch immer wieder." Die Effekte: Die Sozialgerichte haben sehr viel Arbeit. Gewinnt der KomBA-Kunde, muss diese ihm seine Anwaltskosten erstatten. Der KomBA-Kunde bekommt für den Zeitraum, zu welchem er klagt, höhere KdU. Der Kreis zahlt.
In Anhalt-Bitterfeld leben rund 14 000 ALG II-Bedarfsgemeinschaften. Per 31. Januar 2012 hatte die KomBA ABI 1299 unerledigte Klage-Fälle, teils noch aus 2006/07. Ihnen gingen Wiederspruchsverfahren voraus. Zwischen 21 und 27 Prozent liegt die "Stattgabequote" - dem Begehr des widerspruchsführenden KomBA-Kunden wird stattgegeben, die Bescheide und Leistungen geändert. "Etwa 20 Prozent führen zu Klageverfahren vor Gericht", informiert Sylvia Jacobshagen, Bereichsleiterin Leistung der KomBA-ABI.
Verfahren zu Kosten der Unterkunft binden die Kapazitäten des Sozialgerichtes Dessau zu etwa einem Drittel, erklärt Wolfgang Wickinghoff. Der ständige Vertreter der Sozialgerichtsdirektorin hat viele der Fälle direkt auf dem Tisch. "Die Krux bei der KdU ist die Knappheit des Paragrafen im Gesetz. Was ist angemessener Wohnraum?"
Nicht tief genug untersucht
Jeder Landkreis, jede kreisfreie Stadt hat die regionalen Wohnkosten untersucht und Handlungsempfehlungen an sein Jobcenter (KomBA) erteilt. Doch keine ist gerichtsfest, wie das Bundessozialgericht vor Monaten feststellte: Die Angemessenheit sei nicht ausreichend tiefgründig ermittelt worden. Faktisch sind alle KdU-Richtlinien ausgehebelt. Die KomBA ist zur Zahlung der tatsächlich anfallenden Unterkunftskosten zu verurteilen. Um Mietwucher zu unterbinden, sollen die Höchstwerte der bundesweit geltenden Wohngeldtabelle vom Januar 2009 gelten. Die Tabelle ordnet die Region Zerbst in der Mietstufe II. Für die zweiköpfige Familie Braune bedeutet dies 380 Euro Kaltmiete monatlich.
Im vorigen Jahr versuchte die KomBA, eine den Gesetzesanforderungen entsprechende eigene Wohnsituationsanalyse anzufertigen. Dies scheiterte, so Frau Jacobshagen, an nicht gelieferten Daten der Wohnungsunternehmen. Im Januar hat die KomBA nunmehr einem "nach eigenen Angaben in dem Feld führenden Unternehmen" aus Hamburg den Auftrag zur Untersuchung der Wohnkosten in Anhalt-Bitterfeld erteilt. Im Sommer soll das Resultat vorliegen. Bis dahin, bestätigte Frau Jacobshagen, wird die alte Kappungsgrenze genutzt. Keine Rede davon, neuen Klagen vorzubeugen und gleich die Kappungsgrenzen der Wohngeldtabelle zu nutzen. "Wir warten jetzt die Untersuchungen der Hamburger Firma ab." Auch Peter Braune bekam wieder einen aufs gewohnte und erfolgreich beklagte Maß gestutzten KdU-Bescheid. Er wird erneut dagegen vorgehen. "Und sicherlich Recht bekommen. Es gibt Klienten, die klagen schon seit 2005 regelmäßig jedes Jahr wegen der KdU", ist Anwältin Brüggemann optimistisch.
Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld zahlte 2007 rund 41,3 Millionen Euro für KdU, 2008 rund 45,8 Millionen, sank dann auf rund 43,9 Millionen (2009) und stieg 2011 auf rund 44,9 Millionen an.