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Nachkriegsgeschichte Suche nach Familie in Zerbst

Ingrid Moritz ist ein sogenanntes Russenkind, hat ihren Vater nie kennengelernt. Nun sucht sie nach Geschwistern - auch in Zerbst.

Von Thomas Kirchner 22.08.2018, 01:01

Zerbst/Trier l Ingrid Moritz steht an der Grabstelle Nr. 4209 auf dem Russischen Friedhof in Sainte-Geneviève-des-Bois, einem Vorort von Paris, am Grab ihres Vaters. Das war 2012 - 21 Jahre nach seinem Tod.

„Auf dem Grabstein aus rosafarbenem Marmor steht die Inschrift: Ganz Smolensk kannte dich als Partisan“, schildert Ingrid Moritz den bewegenden Moment und erinnert sich, wie sie weinte und Zwiesprache mit ihrem toten Vater hielt, den sie nie kennengelernt hat. „Warum hast du nicht auf mich gewartet?“, fragt sie ihn traurig.

Ingrid Moritz kommt im April 1949 im Dorf Mengerschied im Hunsrück zur Welt. Ihr Vater hat sich da schon in den Westen abgesetzt. Vasilij Petrovitch Andreev, geboren 1924 bei Smolensk, hat als Rotarmist in Deutschland gegen die Nazis gekämpft.

Eine seiner Stationen ist auch das anhaltische Zerbst. Viel ist es nicht, was Ingrid Moritz von ihrem Vater weiß, ein Name, ein paar Daten, ein altes Schwarz-Weiß-Foto und der Ort, wo er lebte und nun begraben liegt.

Ingrids Mutter lernt der Soldat in Mengerschied kennen, einem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz. Etwas später kommt Ingrid zur Welt. Sie ist ein sogenanntes Russenkind, eines der Kinder, die Soldaten der Roten Armee mit deutschen Frauen gezeugt haben.

„Oft wurden die Frauen vergewaltigt, manchmal entstanden die Kinder aber auch aus Liebes- oder Zweckbeziehungen“, weiß Silke Satjukow, Historikerin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Schätzungen gehen von mehr als 300.000 Russenkindern aus“, sagt Satjukow. Wie viele es genau sind, dass wisse man nicht genau.

In Ostdeutschland habe es diese Kinder offiziell nicht gegeben. „Man hat den Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet“, erklärt die Historikern. So ergeht es auch Ingrid Moritz. „Gesprochen hat meine Mutter nie darüber“, erinnert sich die pensionierte Ärztin,die heute in Trier lebt.

Das Thema sei tabu gewesen. „Es durfte nicht sein, dass eine Deutsche schwanger wird von einem Russen, also wurde geschwiegen“, sagt Moritz.

Auch im Westen Deutschlands gibt es Besatzungskinder. „Hier ging man allerdings anders mit dem Thema um“, weiß Silke Satjukow aus vielen Unterlagen, die sie während ihrer Recherche für ihr Buch zu diesem Thema gesichtet hat. Anders als im Osten waren sich die Politiker im Westen einig: Die Kinder der Besatzungssoldaten, die im Westen zur Welt kamen, sollen nicht in Deutschland bleiben dürfen.

„Sie sollen in die Herkunftsländer der Väter, so anfangs der Plan. Das ändert sich Ende der 1950er Jahre. Da redet niemand mehr davon, dass sie weg müssen. Auch hier gibt es keine genaue Zahl. Man geht von mindestens 400.000 aus“, erklärt Satjukow.

Die meisten Russenkinder kennen ihre Väter nicht, wissen nichts über sie – bis heute. Das zumindest ist bei Ingrid Moritz anders. Sie weiß inzwischen etwas mehr. Im Jahr 2003 wurde eine Sendung über Besatzungskinder im TV ausgestrahlt.

Von diesem Moment an beginnt ihre Mutter zu reden. Sie nennt ihrer Tochter den Namen des Vaters: Andrejew, Wassili Petrowitsch. Es findet sich auch noch eine einzig erhaltene Fotografie, die 1960 aufgenommen wurde. Die Mutter erzählt von den Briefen, die sie von Wassili aus Frankreich bekommen hatte. Sie blieben unbeantwortet, da der Stiefvater von Ingrid Moritz, von dem ihre Mutter noch zehn Kinder bekommen hat, alle Briefe vernichtet. Dann beginnt Ingrid Moritz mit ihrer Suche.

Sie lernt Menschen kennen, die sich mit ähnlichen Familiengeschichten beschäftigten. In Archiven finden sich Dokumente, die sie zum Friedhof in Sainte-Geneviève-des-Bois nahe Paris führen.

Aus den Dokumenten, die Ingrid Moritz findet, geht hervor, dass Andrejew Wassili Petrowitsch am 10. September 1924 in Smolensk geboren wurde.

Von 1932 bis 1941 lernt er in der Mittelschule in Cholm im Smolensker Oblast. Von 1941 bis 1945 dient er in der sowjetischen Armee, zuletzt war er Leutnant.

Moritz findet heraus, dass ihr Vater mit dem Orden „Roter Stern“, dem Orden des Großen Vaterländischen Krieges 1. und 2. Stufe, mit den Medaillen für Tapferkeit, für die Einnahme von Königsberg und für die Einnahme von Berlin geehrt wird.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges diente Andrejew Wassili Petrowitsch als sowjetischer Offizier in Brandenburg, Bunzlau, Magdeburg und in Zerbst.

Ingrid Moritz will ihre Geschichte dort erzählen, wo ihr Vater unmittelbar nach dem Krieg einen Teil seines Lebens verbrachte, in Sachsen-Anhalt. Ingrid Moritz hofft, dass sie noch Geschwister in Deutschland hat – vielleicht ja sogar in Zerbst. Die vielleicht noch Schriftstücke haben oder Fotos? Die genauso wie sie auf der Suche sind?

„Wie lange mein Vater genau in Zerbst gedient hat, weiß ich nicht“, sagt sie. Doch ausschließen will sie nicht, das ihr Vater auch in Zerbst eine Beziehung mit einer Frau angefangen haben könnte und so Geschwister von ihr in der Nutehstadt leben. „Vielleicht erinnert sich ja ein Zerbster an den Namen meines Vaters“, bittet die 69-Jährige um Hilfe.

Außerdem hofft sie die Schwestern und Brüder ihres Vaters Andrejew Wassili Petrowitsch oder deren Kinder zu finden. Die Schwester Andrejewa Jekatherina Petrowna, geboren 1927 und seine Brüder Andrejew Wladimir Petrowitsch, geboren 1929, und Andrejew Anatoli Petrowitsch, geboren 1939, leben bis Kriegsbeginn in Smolensk.

Die letzten Lebensjahre verbringt ihr Vater nahe Paris. Moritz vermutet, dass ihr Vater nach 1948 seine Verwandten nie mehr gesehen hat.

Ingrid Moritz hat noch einen großen Wunsch. Sie möchte den Namen ihres Vaters gerne in ihre Geburtsurkunde eintragen lassen. Doch um die Urkunde umschreiben zu lassen, bedarf es mehr als nur die Emotionen der Tochter eines sowjetischen Soldaten und ein namenloses Grab.

Ohne Dokumente über sein Leben und seinen Tod, hat Ingrid Moritz keine Chance sich ihren Wunsch zu erfüllen. Sie braucht einen DNA-Test, der ohne Exhumierung nicht gemacht werden kann.

Ingrid Moritz geht bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, ohne Erfolg. „Dabei gibt es ähnliche Fälle, bei denen eine Exhumierung erlaubt wurde“, versteht Moritz die abweichenden Entscheidungen des Gerichts nicht. Doch Aufgeben kommt für sie nicht in Frage.

„Es ist wichtig für mich zu wissen: Wer bin ich? Ich spüre eine russische Seele. Vielleicht finden sich ja doch noch Geschwister, in Zerbst oder Magdeburg, die wie ich mehr über ihren Vater herausfinden wollen. Gemeinsam sind solche Kämpfe leichter auszufechten“, ist sich Ingrid Moritz sicher.