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Zum Tod von Günter Grass Im "Zwiebelkeller" der Geschichte

Der Trommler ist gegangen: Günter Grass ist tot. Mit der "Blechtrommel"
schuf der Nobelpreisträger Weltliteratur. Der unbequeme Nationaldichter
hielt politischen Einspruch für eine historische Pflicht - und erregte
Anstoß.

Von Matthias Hoenig 14.04.2015, 01:31

Lübeck (dpa) l Im "Zwiebelkeller", einem Nachtclub der Nachkriegszeit am Rhein-ufer, lässt Günter Grass in der "Blechtrommel" die Gäste bereitwillig hohe Preise zahlen: Es ist das Jahr 1949, und die Menschen wollen endlich wieder weinen können in diesem - trotz oder gerade wegen des großen Leids - "tränenlosen Jahrhundert". Statt Essen gibt es nur Brettchen mit Messer und Zwiebeln für die Gäste, die mit den Tränen auch endlich über ihre Schicksale sprechen können.

Erinnerungsarbeit über deutsche Schuld und die literarische Kompensation des Heimatverlustes prägen das gewaltige Werk von Grass, der am Montag im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Nicht nur in der vielgerühmten "Danziger Trilogie", zu der neben der "Blechtrommel" auch "Katz und Maus" und "Hundejahre" gehören, sondern auch in der Novelle "Im Krebsgang" über das Schicksal der zwölf Millionen Vertriebenen am Beispiel des Untergangs der "Wilhelm Gustloff" 1945 mit Tausenden Flüchtlingen an Bord in der Ostsee, versenkt durch ein russisches U-Boot.

Schwierige Erinnerungsarbeit leistete Nobelpreisträger Grass in eigener Sache spät auch in seinem autobiografischen Meisterwerk "Beim Häuten der Zwiebel" (2006). Erstmals berichtete er hier über seine Zeit bei der Waffen-SS wenige Monate vor Kriegsende. Die Schilderungen sind ein literarisches Mahnmal über das Grauen des Krieges. Öffentlich diskutiert wurde aber fast nur die späte SS-Beichte, Grass wurde mit Häme überzogen, ihm jede Glaubwürdigkeit abgesprochen.

Grass studierte zunächst in Düsseldorf und Berlin an den Kunsthochschulen und arbeitete zeitlebens auch als Bildhauer, Zeichner und Maler. Seinen frühen Erfolg als Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg empfand der Sohn sogenannter kleiner Leute aus dem Danziger Vorort Langfuhr selber als märchenhaft.

Mit seiner damaligen Frau Anna, einer Schweizer Ballettstudentin, zieht er 1956 nach Paris. In den drei Pariser Jahren entsteht am Stehpult im feuchten Heizungsraum eines Hinterhofanbaus der Roman "Die Blechtrommel". Deren kleiner Protagonist Oskar Matzerath begeistert 1958 bereits die legendäre Schriftstellergruppe 47. Grass trägt aus seinem fast fertigen Roman vor, gewinnt den Preis von damals gewaltigen 4500 Mark. Mehr als 40 Jahre später erhält er 1999 ebenfalls für "Die Blechtrommel", jenen Schelmenroman über die jüngere deutsche Geschichte, den Literaturnobelpreis. Und die Oscar-gekrönte Verfilmung von Volker Schlöndorff machte Filmgeschichte.

In mehr als 60 Jahren hat Grass ein enormes künstlerisches Werk geschaffen: Lyrik, Dramen und Ballette gehören dazu, Aphorismen, Hörspiele, Essays und Novellen, große Romane und die sich einem einzigen literarischen Genre entziehenden autobiografischen Bücher.

Grass` politische Heimat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialdemokratie. Reformen in kleinen Schritten, nicht der vermeintlich große Wurf einer Ideologie, lautete Grass` politische Überzeugung. Er meldete sich nahezu zu jedem wichtigen Thema zu Wort.

Wenige haben so polarisiert und provoziert wie Grass, selbst noch im hohen Alter "mit letzter Tinte" in seinem Israel-kritischen Gedicht "Was gesagt werden muss" (2012). Aber wenige haben auch so viel einstecken müssen wie Grass, dem "Zunge zeigen" - so einer seiner Buchtitel - Markenzeichen war.

Grass` letzter großer Auftritt war bei der Blechtrommel-Uraufführung am 28. März im Hamburger Thalia Theater, als er in der ersten Reihe mit seiner Frau bei der Aufführung zuschaute und sich danach mit dem Ensemble den Schlussapplaus abholte. Beim 10. Lübecker Autorentreffen Anfang März hatte Grass unvermittelt in einer Runde der versammelten Autoren zu dem Autor Tilman Spengler gesagt: "Wenn ich einmal nicht mehr bin, Tilman, übernimmst Du bitte diese Runde."