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Wladimir M. Grinin, Botschafter der Russischen Föderation in der Bundesrepublik, im Volksstimme-Interview: "Im Jugendaustausch zwischen Russland und Deutschland ist noch Luft nach oben"

17.03.2011, 04:30

Deutschland und Russland sind erklärte Partner in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Zum Stand und der Zukunft der beiderseitigen Beziehungen, zur Entwicklung in Russland selbst und zur Rolle russischer Migranten in der Bundesrepublik äußerte sich der russische Botschafter Wladimir M. Grinin in seiner Berliner Residenz im Gespräch mit Volksstimme-Redakteur Steffen Honig.

Volksstimme: Herr Botschafter, welche Chancen gibt es – im Hinblick auf die von Russland und Deutschland bekräftigte strategische Partnerschaft – für eine vertiefte politische, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit?

Wladimir M. Grinin: Der Begriff "strategische Partnerschaft" setzt schon eine bestimmte Tiefe der Beziehungen voraus. Das russisch-deutsche Verhältnis ist bereits jetzt sehr vertieft. Der politische Dialog hat eine nie dagewesene Intensität erreicht. So trafen sich im vergangenen Jahr der russische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin siebenmal.

"Formen des Dialogs sind international einmalig"

Einige Formen des politischen Dialogs, die sich zwischen Russland und Deutschland etabliert haben, sind in der internationalen Praxis einmalig. Dazu gehören die jährlichen Regierungsgespräche auf der höchsten Ebene, an denen neben dem Präsidenten Russlands und der deutschen Regierungschefin beinahe alle wichtigen Minister und Ressortchefs teilnehmen. In diesem Jahr steht bereits die 13. Runde dieser Gipfelgespräche an, die turnusmäßig in Deutschland stattfinden wird.

Wir stimmen unsere Positionen zu den wichtigsten Fragen der internationalen Sicherheits-, Wirtschafts- und Finanzpolitik ab, unter anderem in solchen Formaten wie der Hohen Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik und der Hohen Arbeitsgruppe für strategische Wirtschafts- und Finanzfragen, welche auch einen einmaligen Charakter haben.

Volksstimme: Strahlt diese enge Abstimmung auch auf weitere Staaten aus?

Grinin: In der letzten Zeit – und das ist unseres Erachtens für Europa von besonderer Bedeutung – verläuft die Abstimmung auch in trilateralen Formaten. So wurde im vergangenen Jahr das "Dreieck" Russland-Deutschland-Frankreich wiederbelebt. Auch die "Dreieckskombination" zwischen Russland, Deutschland und Polen ist immer öfter zu sehen. Wenn aus diesen trilateralen Formaten ab und zu ein "Viereck" entsteht, ist das aus meiner Sicht auch zu begrüßen, weil die Bildung eines europäischen Konsenses zu den wichtigsten außen- und wirtschaftspolitischen Fragen sehr förderlich wäre.

Volksstimme: Wie steht es um die gesellschaflichen und kulturellen Kontakte?

Grinin: Spricht man von den gesellschaftlichen Beziehungen, so ist hier das russisch-deutsche zivilgesellschaftliche Forum "Petersburger Dialog" zu erwähnen, aber auch die Abmachung im Rahmen der Modernisierungspartnerschaft, die sich jetzt in unseren Beziehungen zu der EU etabliert, eine ständige deutsch-russische Zusammenarbeit in solchen Bereichen wie Rechtsdialog, Wissenschaft und Bildung, Jugendaustausch, intensivere Kontakte zwischen den Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt zwischen den Menschen.

Die gegenseitige Zuneigung für die Kultur des Partnerlandes war schon immer der Faden, der unsere Völker verband und selbst in den dunkelsten Kapiteln unserer gemeinsamen Geschichte nie gänzlich abriss. Heute sind Musiker, Künstler, Filmschaffende aus Russland ständig zu Gast in Deutschland und umgekehrt. Wir in der Botschaft versuchen, diesen Austausch nach Kräften zu fördern. Gerade vor einer Woche traten in unserem Konzertsaal Solisten des Bolschoi-Theaters auf, denen das deutsche Publikum einen begeisterten Empfang bereitete.

Für 2012 und 2013 ist das Jahr Russlands in Deutschland und das Jahr Deutschlands in Russland geplant. Da wird die Kultur in den Mittelpunkt unserer Beziehungen rücken. Als wir 2003 und 2004 die Jahre der russischen Kultur in Deutschland und der deutschen Kultur in Russland veranstalteten, haben nach unseren Schätzungen mehr als 1,5 Millionen Menschen verschiedene kulturelle Events in beiden Ländern besucht. Diese beachtliche Zahl hoffen wir diesmal noch zu übertreffen.

Volksstimme: Also eine pure Erfolgsbilanz…

Grinin: Das heißt allerdings nicht, dass es keine Luft nach oben, keinen Raum für weitere Verbesserungen gibt. Besonders im Bereich des Jugendaustausches muss noch viel getan werden, damit er ähnliche Ausmaße wie die deutsch-französischen und die deutsch-polnischen Jugendbegegnungen erreicht.

"Visafrage auch für die EU-Länder wichtig"

Volksstimme: Die EU lehnt es bisher ab, russische Bürger visafrei einreisen zu lassen, sehr zum Ärger Ihrer Regierung. Wie wichtig ist die Visafrage für Russland?

Grinin: Die Visafrage ist nicht nur für Russland wichtig, sondern auch für die EU-Länder. Die Tatsache, dass wir zur Zeit noch keine Regelung für die Visafreiheit haben, bedeutet für uns Hindernisse in vielerlei Hinsicht: In der weiteren schnelleren Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, die wir alle brauchen. Oder in der Entwicklung der Kontakte zwischen den Menschen, die wir alle gleichfalls brauchen. Wir müssen alle Hürden, alle Mauern, die leider noch existieren, endlich abschaffen, wenn wir wirklich ein einheitliches Europa haben wollen.

Volksstimme: Die Europäer machen den Einwand geltend, dass Russlands lange Grenzen nach Asien nicht so geschützt werden können, dass sich mögliche Flüchtlingsströme abhalten lassen.

Grinin: Diese Bedenken sind berechtigt. Man muss aber auch sagen, dass Russland sehr viel dafür tut, um diese Grenzen sicherer zu machen. Diese Mängel sind also zu beheben. Wir haben mit der EU vereinbart, dass wir eine Liste der gemeinsamen Schritte zusammenstellen. Leider lässt auch diese Abmachung auf sich warten. Auf den Entwurf seitens der EU warten wir noch immer. Wir hoffen, dass er demnächst vorgelegt wird. Es geht nicht darum, Grenzen abzuschaffen. Ein Visum ist nur eine der Grenzkontrollen, alle übrigen Maßnahmen bleiben erhalten, um die notwendige Sicherheit zu gewährleisten.

Volksstimme: Was kann die deutsche Wirtschaft für Russland tun?

Grinin: Sehr viel. Deutschland kommt ja die zentrale Rolle in der schon erwähnten Modernisierungspartnerschaft zwischen Russland und der EU zu. In fast allen vorrangigen Bereichen dieser Partnerschaft – sei es die Steigerung der Energieeffizienz, die Erneuerung der Industrieanlagen, die Modernisierung der Produktionsabläufe oder die Fortbildung von Fachkräften – ist die Erfahrung und Expertise der deutschen Unternehmen gefragt. Zu einer modernen Wirtschaft, die wir im Begriff sind, aufzubauen, gehört auch die hohe Unternehmenskultur. Da die russische Marktwirtschaft noch sehr jung ist, haben wir hier offensichtlich Nachholbedarf. Hier könnte insbesondere der deutsche Mittelstand eine Vorbildrolle spielen.

Volksstimme: Und wie sieht es umgekehrt aus?

Grinin: Russland ist seinerseits bereits seit Jahrzehnten Deutschlands wichtigster und zuverlässiger Lieferant von fossilen Energieträgern. Die Partnerschaft auf diesem Gebiet geht weit über das Verhältnis Abnehmer/Lieferant hinaus. Deutsche Konzerne beteiligen sich an der Erschließung von Erdgasfeldern in Russland. Ein Konsortium aus dem russischen Gasprom, den deutschen Firmen BASF und E.ON und der niederländischen Gasunie baut derzeit die Ostsee-Pipeline, um den wachsenden Bedarf Europas an Erdgas zu decken. Wir gehen davon aus, dass die Partnerschaft auf diesem Gebiet weiterhin vertieft wird, auch wenn manchmal versucht wird (wie mit dem "dritten Energiepaket" der EU), uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Allerdings hat Russland viel mehr zu bieten als nur Öl und Gas. Auf solchen Gebieten wie Luft- und Raumfahrt, Teilchenphysik, Softwareentwicklung gehört unser Land international zu den Spitzenreitern. Wir gehen davon aus, dass gerade in diesem Jahr, das zum russisch-deutschen Jahr der Innovationen erklärt wurde, die Kooperation in den forschungs- intensiven Branchen neue Impulse bekommt.

Volksstimme: Die Einschätzung des politisches Systems in Russland ist in Deutschland von "lupenreiner Demokratie" bis zu Rückfällen in den Stalinismus. Was stimmt?

Grinin: Russland befindet sich in einer Phase, in der von vollkommener Demokratie keine Rede sein kann. Aber egal um welche es sich handelt – welche Demokratie ist schon vollkommen? In Russland haben wir mit der Demokratie erst vor 20 Jahren begonnen. Deutschland hat damit eine längere Erfahrung, Großbritannien eine noch längere. Lasst uns ein bisschen abwarten, was die Ergebnisse der Demokratieentwicklung in Russ- land angeht. Wir sind wirklich noch in einer Anfangsphase.

Volksstimme: Im kommenden Jahr sind in Russland Präsidentschaftswahlen. Wer wird für die Partei "Geeintes Russland" kandidieren – Dmitri Medwedew, Wladimir Putin oder Medwedew gegen Putin? Was lautet Ihre Prognose?

Grinin: Dazu könnte ich kaum Stellung nehmen, weil es noch ungewiss ist. Selbst die Politiker, die Sie gerade erwähnt haben, sagen nichts Konkretes dazu.

"Gewinnerin der Russisch-Olympiade wurde Kanzlerin"

Volksstimme: In Ostdeutschland standen jahrzehntelang sowjetische Truppen inklusive vieler persönlicher Kontakte, der Westen war Gegner – gibt es vor diesem historischen Hintergrund noch Unterschiede im Verhältnis zu den betreffenden deutschen Bundesstaaten?

Grinin: Der Austausch zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Sowjetunion war sehr intensiv. Viele DDR-Bürger konnten damals unser Land aus der nächsten Nähe kennenlernen, darunter auch eine Gewinnerin der Russisch-Olympiade, die später Bundeskanzlerin wurde. Es sind viele Freundschaften entstanden, die sich bis heute gehalten haben. Binationale Ehen wurden geschlossen.

Ich glaube, dass ohne die vielfältigen Kontakte zwischen den Menschen in der DDR und der UdSSR die russisch-deutsche historische Aussöhnung viel schwieriger zustande zu bringen wäre. Auch heute stellen die Menschen aus den neuen Bundesländern ein enormes Potenzial für die bilaterale Kooperation dar. Schließlich sind etwa drei Millionen von ihnen des Russischen mächtig. Nicht wenige haben Hochschul- und Universitätsbildung in der UdSSR oder in Russland bekommen. Im vergangenen Jahr hat Moskau ein Programm gestartet, um hochqualifizierte ausländische Fachkräfte anzuwerben, die wir für die Modernisierung des Landes brauchen. Wir gehen davon aus, dass diese Initiative gerade für diese Menschen interessante Chancen bieten könnte.

Aber auch die "alte" Bundesrepublik ist seit mindestens zwei Jahrzehnten kein Gegner mehr. Vielmehr wurde es seit den späten Achtzigern für viele in Russland zum Vorbild, in erster Linie das System der sozialen Marktwirtschaft.

Heutzutage machen wir im Grunde genommen keinen Unterschied zwischen den alten und den neuen Bundesländern – sowohl die einen als auch die anderen sind für uns willkommene und begehrte Partner.

"Sachsen-Anhalt hat Russland Zarin Katharina ,geschenkt‘"

Volksstimme: Was kann das Bundesland Sachsen-Anhalt in die deutsch-russische Kooperation einbringen?

Grinin: Den größten Beitrag zur Entwicklung Russlands hat Sachsen-Anhalt wohl im 18. Jahrhundert geleistet, als es uns die Zarin Katharina die Große – geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst – "geschenkt" hat. Sie hat nicht nur zahlreiche Reformen eingeleitet, sondern auch viel für die Entwicklung verschiedener russischer Regionen, auch Sibiriens, getan. Seit 2006 pflegt Sachsen-Anhalt die Partnerschaft mit der sibirischen Region Altai und handelt somit quasi in Katharinas Tradition.

Volksstimme: Welche Impulse können russische Aussiedler und Migranten dem heutigen Deutschland geben?

Grinin: Mit über drei Millionen stellen die Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion die zweitgrößte Zuwanderergruppe in Deutschland nach den Türken dar. Es ist auch die größte russischsprachige Diaspora außerhalb der GUS. Es sind Menschen recht unterschiedlicher Herkunft – Spätaussiedler, also ethnische Deutsche, Juden aber auch Russen und Vertreter anderer Völker unseres Vielvölkerstaates. Deswegen kann man hier kaum von einer homogenen Gruppe sprechen. Nicht wenige von ihnen sind hochqualifiziert, haben einen Uni-Abschluss.

Wichtig ist, dass – dies geben selbst die Kritiker der Zuwanderungspolitik zu – diese Menschen sich zumindest in der zweiten Generation in die deutsche Gesellschaft integrieren. Es werden hier keine Parallelgesellschaften gebildet, die bekanntlich ein hohes Spannungspotential in sich tragen. Viele bleiben aber, was für uns sehr erfreulich ist, ihren kulturellen und geistigen Wurzeln treu. Daher möchten wir diese Menschen in erster Linie als Brückenbauer zwischen den Gesellschaften Russlands und Deutschlands sehen. In dieser Eigenschaft können sie eine Bereicherung für beide Länder sein.