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Arbeitnehmerfreizügigkeit Polen rüsten nicht zum Sturm auf Jobs in Sachsen-Anhalt

08.12.2010, 05:24

Am 1. Mai 2011 hebt sich jene Schranke, die den deutschen Arbeitsmarkt bisher gegen Arbeitkräfte aus den neuen EU-Staaten abgeschottet hat. Wenn an diesem Tag die letzte protektionistische Hürde nach der EU-Osterweiterung von 2004 fällt, können polnische Unternehmen mit ihren eigenen Mitarbeitern zu polnischen Konditionen in Deutschland arbeiten.

Allerdings gelten auch für sie die im Arbeitnehmer-Entsendegesetz vom 20. April 2009 für ganz Deutschland festgelegten Mindeststandards für Lohn, Urlaubsanspruch, Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie für Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften.

"Polnische Konditionen in Sachsen-Anhalt – Bedrohung oder Chance?" Das war der Titel einer von der polnischen Botschaft angeregten Veranstaltung der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Sachsen-Anhalt und der Industrie- und Handelskammer Magdeburg, auf der Fachleute am vergangenen Freitag vor Unternehmern Hintergründe erörterten und Lösungsansätze anboten.

Die Polen "stehen nicht an den Grenzen und warten, dass sie hier arbeiten dürfen", ist sich Rainer Erdmann von der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt/Thüringen der Bundesanstalt für Arbeit sicher. Er baut seine Argumentation im Grunde darauf auf, dass Sachsen-Anhalt bei den Verdienstmöglichkeiten in Deutschland vor dem Saarland an vorletzter Stelle aller Bundesländer liege. Das ist offenbar nicht nur für junge deutsche Fachleute unattraktiv. Polnische Arbeiter wüssten die guten Autobahnen zu schätzen, auf denen sie auf ihrem Weg nach Hamburg oder Nordrhein-Westfalen Sachsen-Anhalt rasch hinter sich lassen könnten, sagt Erdmann.

Folgt man seinen Gedanken, dann fehlen dem Bundesland Fachkräfte vor allem deshalb, weil andere Regionen mit deutlich besseren Verdienstmöglichkeiten mehr Zugkraft entwickeln. "Die Attraktivität zu steigern, fängt bei Lohnzahlungen an", sagte er.

Gute Chancen

Der Arbeit, gut bezahlter Arbeit, sind viele Polen nach dem EU-Beitritt in Richtung Großbritannien und Skandinavien – nachgezogen. Sie werden dort geschätzt als fleißige und kompetente Mitarbeiter. Nach Deutschland werden die nicht kommen und helfen, hier die Facharbeiterknappheit zu beheben.

Anzunehmen ist, dass einige infolge der Wirtschaftskrise zurückkehren in ihre Heimat, wo ein Facharbeiter im Monat durchschnittlich 1000 Euro verdient, der Durchschnittslohn bei 850 Euro und der Mindestlohn bei 350 Euro liegt (Stand September 2010).

Man könne niemandem verbieten, seine Chancen zu nutzen. Deshalb sei Freizügigkeit, also die freie Wahl des Wohnortes und des Arbeitsplatzes, politisch gewollt, sagt Dr. Jacek Robak, Leiter der Abteilung Handel und Investitionen an der Botschaft der Republik Polen. Aber "wirtschaftlich gesehen, sind wir überhaupt nicht daran interessiert, hoch motivierte und gut ausgebildete Arbeitskräfte ins Ausland zu schicken". Diese Abwanderung führe in Polen selbst zu offenen Stellen.

So lenkte Robak denn die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf die Chancen einer engen Zusammenarbeit. Er regte an, "darüber nachzudenken, ob man die Fachkräfte unbedingt hier brauche, oder ob das nicht auch im Ausland" ginge.

Als Beispiel nannte er die MTU-Tochter Aero Engines Polska mit Sitz in Rzeszów, Hauptstadt der Woiwodschaft Karpatenvorland, "mit 100 Ingenieuren in München und Rzeszów". Auf dem 2009 bezogenen Gelände werden Turbinenschaufeln gefertigt und Module für eine Vielzahl von zivilen Triebwerken montiert.

Polen gilt Investoren als guter Standort. So gibt es in den 14 Sonderwirtschaftszonen des Landes keine Körperschaftsteuer, die in Polen sonst bei 19 Prozent liegt. Die Kapitalsteuer beträgt 20 Prozent.

Und es engagieren sich nicht nur die Großen, sondern viele deutsche Mittelständler im östlischen Nachbarland. "Jede neue Werkseröffnung in Polen spiegelt die Verflechtungen der Wirtschaften beider Länder wider", sagt Staatsministerin Cornelia Pieper. Die Beauftragte der Bundesregierung für deutsch-polnische Zusammenarbeit unterstreicht, dass gute zwischenmenschliche Beziehungen über Ländergrenzen hinweg und erfolgreiche Wirtschaftskooperation zusammengehören. Pieper richtet die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag, der im kommenden Jahr 20 Jahre lang besteht, und auf die erste EU-Ratspräsidentschaft Polens, die am 1. Juli 2011 beginnt.

Man muss nicht auf den 1. Mai warten, um polnischen Unternehmen in Deutschland zu begegnen. Die sind hierzulande schon lange aktiv. Das Staßfurter Sodawerk beispielsweise gehört seit 2007 zum polnischen CIECH-Konzern, der von da an zur zweitgrößen Herstellergruppe von Sodaprodukten in Europa aufstieg.

Oder: Wer eine der 522 Star-Tankstellen in Deutschland anfährt, tankt beim polnischen Mineralöl- und Petrochemiekonzern Orlen. Und Fußballfans wissen sicher auch, dass das polnische Softwarehaus Comarch Hauptsponsor von 1860 München ist.

Keine Einbahnstraße

Nach dem 1. Mai, da ist sich Robak sicher, werden mehr polnische Investitionen nach Deutschland fließen. Dieser Markt mit 80 Millionen Menschen sei attraktiv. Zudem ließen sich mit in Deutschland produzierten Waren höhere Verkaufserlöse erzielen; das Sigel "Made in Germany" sei weltweit hoch geschätzt. Zu schätzen wüssten polnische Unternehmen auch, dass sich von Deutschland aus Drittmärkte schneller erschließen lassen. Und: Verglichen mit Polen sei die Geschäftsabwicklung transparenter und die Bürokratie geringer.

Fazit: Es gibt keine Einbahnstraße in den deutsch-polnischen Beziehungen. Und so bietet denn auch die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit vom 1. Mai 2011 an beiden Seiten gute Chancen.