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Havelberger Sebastian Maslow berichtet über die Situation in und um Sendai Trümmerlandschaft ist geprägt von Gebäuden, die dem Tsunami trotzten

Von Sebastian Maslow 23.03.2011, 04:28

Gleichwohl sich die chinesischen Schriftzeichen unterscheiden, bedeutet das Wort Jishin im Japanischen sowohl Erdbeben als auch Selbstvertrauen. Nachdem die schwerste Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in der Geschichte des Inselstaates die Menschen im Nordosten Japans aus ihrem Alltag riss, blieb das Vertrauen und die Zuversicht der Japaner, diese Krise zu überwinden, unerschüttert.

Das Beben der Stärke 9,0 erschütterte den Norden des Landes am 11. März um 14.46 Uhr Ortszeit. Nur wenige Minuten später rollte eine gigantische Tsunami-Welle von mehr als zehn Meter Höhe auf die Pazifikküste entlang der nördlichen Präfekturen Fukushima, Miyagi, Iwate und Aomori zu und hinterließ eine Wüste der Zerstörung. Ganze Städte riss die Welle mit sich. Zehntausende Menschen verschluckte das Meer. Häuser wurden wie Streichhölzer zerdrückt und fortgespült. Fischerboote von beachtlicher Größe bis weit hinter die Küstenlinie getragen. Menschen rannten um ihr Leben, versuchten sich auf Dächern und Anhöhen in Sicherheit zu bringen. Einst idyllische Fischergemeinden im Norden der Präfektur Miyagi, wie die 20 000 Einwohner zählende Stadt Minami Sanriku wurden vollständig zerstört. Geprägt wird die Trümmerlandschaft nur noch durch vereinzelte Gebäude, die den Fluten trotzten.

Noch heute vermisst die Stadt 10 000 ihrer Einwohner. Auch in Kesennuma hinterließ der Tsunami ein Bild der Zerstörung. 17 000 Menschen hat der Tsunami allein hier obdachlos gemacht. Während am Hafen die Gebäude in den Fluten verschwanden, fielen am anderen Ende der Stadt die Häuser den Flammen zum Opfer. In der Präfektur Miyagi werden weit über 15 000 Todesopfer erwartet. Und immer wieder müssen die Bergungstrupps neue grausige Funde machen, von Leichnamen, die das Meer wieder an die Küsten spült. Eine Woche, nachdem die Erde im Nordosten des Inselstaats bebte, bestätigt sich, was Premierminister Kan Naoto unmittelbar nach der Katastrophe erklärte: "Japan erlebt die schwerste Krise seiner Nachkriegszeit."

Das Ausmaß der humanitären Krise lässt sich nur schwer ausmachen. Lokale Behörden beklagen den Mangel an Leichensäcken und Särgen, Krematorien sind völlig ausgelastet. Auch die Versorgungslage im Krisengebiet um Miyagi bleibt weiterhin angespannt. Während mehr als 430 000 Menschen in den Notlagern der Kälte trotzen, werden Nahrungsmittel rationiert. Kleine Reisbälle, Onigiri, werden geteilt. Vor den Supermärkten Sendais werden die Schlangen kürzer, da die Regale bereits seit Tagen leer sind. Währenddessen werden die Bergungsarbeiten durch Benzinmangel erschwert.

Jishin heißt Erdbeben und Selbsvertrauen

Das Beben überraschte die Menschen am Nachmittag. Die kurzen vertikalen Stöße, abgelöst von langen horizontalen Schwingungen, waren so stark, dass man sich nur schwer auf den Beinen halten konnte. Menschen rannten ins Freie, kauerten sich auf den Boden, klammerten sich an Lichtmasten. Gebäude schwankten heftig, einige so stark, dass die Spannungen Fenster zum Zerbarsten brachten. Für Minuten erfüllte der unheimliche Klang von schwingendem Stahl und zerspringendem Glas die Luft. Autos und Busse bremsten, sprangen und wankten auf der Straße. Der Verkehr kam sofort zum Erliegen. Menschen sahen sich ungläubig an. Der Schock der Erschütterung hat sich tief in die Gesichter gegraben, ähnlich wie das Beben schwere Risse an den Fassaden der Gebäude hinterließ.

Begleitet von schweren Nachbeben flüchteten die Menschen in die vielen ausgeschriebenen Notlager in ihren Stadtteilen. In den Turnhallen der Grundschulen harrten sie aus auf blauen Plastikplanen. Angestellte in ihren Anzügen, Rentner, Mütter mit ihren Kindern richten sich auf eine Zeit der Ungewissheit ein. Viele hoffen vor Angst vor Nachbeben auch eine Woche nach der Katastrophe in Notlagern auf eine Entspannung der Situation. Vielerorts hat das Beben Gebäude so stark beschädigt, dass eine Rückkehr unmöglich scheint.

In Tohoku ist man noch weit vom Alltag entfernt. 850 000 Haushalte sind weiterhin ohne Strom, während 1,5 Millionen Haushalte ohne Wasser auskommen müssen. Und dennoch, die Menschen begegnen der Katastrophe mit Ausdauer und Disziplin. Gegenseitiges Vertrauen und Unterstützung helfen, den unerträglichen Alltag etwas erträglicher zu machen. Hilfe beginnt auf den untersten Ebenen.

Trotz des Ausmaßes der Katastrophe trifft es Japaner nicht unerwartet. Seit ihrer Kindheit werden sie auf Erdbebenkatastrophen vorbereitet. Regelmäßige Übungen prägen den Alltag. Und es zahlt sich aus. Bevor Hilfe aus Tokio eintrifft, beginnen Menschen, sich vor Ort zu vernetzen. In der kleinen Wohngemeinschaft im Sendaier Stadtteil Kadan wird ein Krisenstab eingerichtet. Lokale Restaurantchefs bringen zusammen, was noch in Küchen zu finden ist: Gemüsesuppen, Reis und Curry. Für eine kurze Zeit verschwindet die Anspannung in den Gesichtern der Menschen. Man unterhält sich, erkundigt sich nach dem Wohlergehen und tauscht Informationen aus. Bürgerpatrouillen wandern nachts durch die Wohngebiete, prüfen, ob Gas und Wasser abgedreht sind und sich die Menschen auch in diesen Stunden sicher fühlen können.

Nur wenige Stunden Schlaf sollten sie in den ersten Tagen nach der Katastrophe bekommen. Die Nächte waren geprägt von den schrillen Handytönen, die weitere Erdbeben ankündigen. Man springt auf, wartet ab, und versucht zu erahnen, ob es sich bei den neuen Erschütterungen um vertikale oder horizontale Stöße handelt. Bei letzteren scheint die Gefahr berechenbar. Sollte es allerdings anders kommen, dann bleibt nur die Flucht ins Freie. Über die Tage wird der Körper zum eigenen Schwingungsmesser. Ständig glaubt man, neue Beben zu spüren, selbst dann, wenn die Erde ruhig bleibt. Japaner nennen dieses Phänomen "Jishin yoi" - Erdbeben trunken.

Stromausfall hat vielen der Menschen im Krisengebiet um Sendai die Szenen der Zerstörung, die sich nur wenige Kilometer entfernt an der Küstenregion ereigneten, vorenthalten. Es war Samstagnacht, als das Licht wieder in Kadan anging, als die Bilder der Katastrophe über die Bildschirme liefen und die Menschen in Unglauben stürzten. Freunde, die sich an die schweren Monate und Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges erinnerten und auch die Luftangriffe auf Sendai erlebten, sahen in dieser Katastrophe eine für Sendai und Miyagi noch nie dagewesene Tragödie.

Unterspülte Straßen, eingestürzte Brücken

Während in Miyagi die Menschen der Kälte und Ungewissheit trotzen, versuchen Katastrophenhelfer, sich in unmittelbar betroffenen Küstenregionen vorzuarbeiten. Mehr als 100 000 Soldaten der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte wurden mobilisiert. Und dennoch, die Fläche des Katastrophengebiets ist so weitläufig, dass Hilfe nur wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheint. Die Suche nach Überlebenden ist wie eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Unterspülte Straßen, eingestürzte Brücken wie etwa in Ichinomaki, haben viele Zugangswege ins Krisengebiet versperrt und die Überlebenden lange von der Außenwelt abgeschnitten. Hilfslieferungen können nur per Hubschrauber gebracht werden, nachdem der Internationale Flughafen von Sendai durch den Tsunami zerstört wurde. Geräusche von Rotorblättern erfüllen die Stadt Tag und Nacht.

In den Stunden nach dem Beben versuchen viele Menschen, Kontakte zu Familienangehörigen, Freunden und Bekannten herzustellen. Telefongesellschaften richten Notfallsysteme ein. Öffentliche Telefone werden freigegeben. Überlastete Netze erschweren die Suche. Wer kann, versucht in den vielen Notlagern und Listen von Vermissten die Namen seiner Angehörigen zu suchen.

Rund 100 Kilometer südlich von Sendai hat sich um den Krisenreaktor Fukushima Daiichi eine weitere Katastrophe zugespitzt. Und dennoch, während in westlichen Medien die Berichterstattung von einem möglichen "Super-Gau" die Schlagzeilen bestimmte, blieb in Japan die Berichterstattung sachlich und die Panik aus. Berichte von erhöhten Strahlenwerten erreichten auch Sendai. Von Panik unter den Japanern kann aber keine Rede sein. Hier bestimmt das unmittelbare Leid der Tsunami-Katastrophe den Alltag. Ausländische Medienberichte provozieren einen Exodus. Viele Ausländer im Norden des Landes sowie in Tokio versuchen, das Land zu verlassen. Menschenmassen füllen die Terminals der internationalen Flughäfen in Narita und Niigata. Berichte von erhöhten Strahlenwerten in Tokio und einem Reaktor 250 Kilometer nördlich Tokios "außer Kontrolle" bringen Fluggesellschaften wie etwa die deutsche Lufthansa dazu, Tokio nicht mehr anzufliegen. Ein solches ad-hoc Krisenmanagement erschwert vielen, die auf ihre Flüge warten, die Ausreise.

Wer kann, verlässt Japan oder versucht, wenigstens in den sicheren Süden des Inselstaates zu kommen. Auch aus Sendai versuchen viele der Ausländer sich abzusetzen. Eingeschlossen und isoliert in der Krisenregion, sind Autobahnen und Schienenverkehr derzeit eingestellt. Montagabend trifft Hilfe ein von der deutschen Botschaft. Begleitet vom Technischen Hilfswerk (THW) bringen drei Busse rund 100 Ausländer aller Nationalitäten aus dem Krisengebiet in die Hauptstadt. Sechs Stunden Busfahrt auf den gesperrten Autobahnen durchs Krisengebiet Richtung Süden gehen vorbei an den zahlreichen Transporten, die Richtung Norden rollen, um Hilfsgüter und schweres Gerät nach Tohoku zu bringen.

Über eine Woche ist verstrichen, seitdem die Erdbeben- und Tsunamikatastrophe Japan aus seinem Alltag riss und das Land mit Leid und Ungewissheit erfüllt. Japan gedenkt seiner Opfer. Unerschüttert bleibt jedoch das Vertrauen und die Zuversicht der Japaner, diese schwere Stunde in der jüngsten Geschichte des Landes zu bewältigen.