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Die Geschwister Bärbel Lorenz und Louis Riedke fanden sich nach mehr als 60 Jahren Trennung "Ich musste mich immer mal kneifen, ich kann es gar nicht glauben"

Von Gundi Neuschulz 29.04.2013, 01:28

"Ich musste mich gestern immer mal kneifen, ich kann es noch gar nicht glauben", sagte Bärbel Lorenz. Sie traf sich am vergangenen Mittwoch zum ersten Mal im Leben mit ihren Bruder, dem Gehrendorfer Louis Riedke. Beide sind sehr froh, sich gefunden zu haben.

Gehrendorf l "Ich habe lange nach meiner Schwester gesucht. Schon als es die DDR noch gab. Inzwischen war es durch Gesetzesänderungen möglich, zur Suche seiner Wurzeln Auskunft vom Jugendamt zu bekommen. Und seit knapp drei Wochen weiß ich nun, dass ich meine Schwester gefunden habe". Louis Riedke hat eine bewegte Biografie. Am 9. März 1947 wurde er in Fulda in Hessen geboren. "Die ersten vier Lebensjahre verbrachte ich in einem Heim. An diese Zeit fehlt mir aber jegliche Erinnerung", sagt Louis Riedke. "Was im Heim mit mir passiert ist, und wo dieses Heim war, das weiß ich bis heute nicht. Bei mir wurden Schnittwunden hinter den Ohren und quer über der Zunge festgestellt. Erinnerung an mögliche Misshandlungen habe ich nicht, aber die Narben sind mir geblieben." Seine Schwester Bärbel wurde gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Auch sie war im Heim. "Meine Adoptiveltern haben gesagt, ich hatte Striemen und blaue Flecke überall. Ich war erst ein Jahr alt", so Bärbel Lorenz. Dass beide im gleichen Heim waren, und voneinander gar nichts wussten, können beide nur vermuten.

Dass beide gar keine Halb-, sondern Vollgeschwister sind, weiß Louis Riedke erst, seit er seine Schwester kennt. "Ich bin das Kind eines amerikanischen Soldaten. Mein Vater war Berufssoldat gewesen, 22 Jahre Oberfeldwebel bei der US-Army. Zehn Auszeichnungen wurden ihm verliehen. Er hieß Louis Tiger und war in Hessen stationiert. Er ist 1987 mit 71 Jahren verstorben. Das habe ich aber erst vor wenigen Jahren herausbekommen und konnte ihn nicht mehr kennenlernen", bedauert Riedke.

Aber zurück zum Anfang. Berta Riedke, die Großmutter des kleinen Louis, war verwitwet und flüchtete im Krieg mit ihrem Sohn Ernst aus ihrer Heimat Polen. Sie kamen aus dem ländlichen Prazuchy bei Kalisz nach Wendeburg im Kreis Braunschweig. Sie wohnten dort auf einem Bauernhof zur Miete und halfen in der Erntezeit aus. Der Onkel arbeitete bei jenem Bauern als Knecht. "Dort wandte sich meine Großmutter an das Rote Kreuz, dessen wichtigste Aufgabe nach dem Zweiten Weltkrieg darin bestand, vermisste oder vertriebene Menschen wieder mit ihren Familien zusammenzuführen. Über den Suchdienst hoffte sie, ihre älteste Tochter, meine Mutter Ida Zerbe, zu finden", erzählt Riedke. Sie habe wahrscheinlich nicht schlecht gestaunt, als sie die Nachricht erhielt, dass in einem Heim ein kleiner Junge mit dem Namen Louis Riedke lebte und wohl das Kind ihrer Tochter sein könnte. Dann habe sie die Nachricht über ein kleines Mädchen mit den Namen Bärbel Zerbe erhalten, Louis Schwester und drei Jahre jünger als er.

"Oma wollte beide Kinder zu sich nehmen, aber Bärbel war gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben worden. Nach einigem Schriftverkehr durfte ich zu meiner Großmutter. Nun hatte ich eine Ersatzmutter und sogar einen Onkel dazu."

"Das Bärbel gar nicht meine Halbschwester, sondern meine richtige Schwester ist, weiß ich erst seit wenigen Tagen. Als wir das erste Mal telefoniert haben, hat sie mir erzählt, dass meine Mutter, als sie schon mit ihrem deutschen Mann verheiratet war, mit meinem Vater Louis Tiger fremdgegangen war. Sie wurde schwanger, ihr Mann merkte, dass Bärbel nicht von ihm war, und so kam auch sie ins Heim. Und wir haben nicht nur die gleiche Mutter, sondern auch den gleichen Vater."

Als Louis mit seiner Oma beim Bauern wohnte, kam er in die Schule. Die Lehrerin schien ihn zu mögen, wohl auch des-halb, weil er als einziges Kind der Klasse keine Eltern hatte. In der zweiten Klasse bekam er eine andere Lehrerin, älter, strenger und sie mochte ihn nicht - wohl aus dem gleichen Grund - weil er eben als Einziger keine Eltern hatte. "Und prompt bin ich sitzen geblieben.", erinnert er sich

In der Zwischenzeit hatte seine Oma über das Rote Kreuz ihre Töchter gefunden. Ida, Louis Mutter, wohnte in Ennigerloh in Westfalen, Melida in Lübeck und Lydia in Scheuen im Kreis Celle in Niedersachsen. "Also zogen wir um. Oma entschied sich für ihre Tochter Lydia, da diese in dem am nächsten gelegenen Ort lebte. Tante Lydia wohnte dann gleich nebenan und meine Freude war groß, da ich nun zwei Cousinen hatte. Monika war so alt wie ich und Reni ein paar Jahre jünger." Mit Hilfe der beiden habe er sich schnell eingelebt. Einige Mütter und Väter hätten es aber gar nicht gern gesehen, wenn er mit ihren Kindern gespielt habe. "Ich hatte ja keine Eltern, lebte bei meiner Großmutter und hatte außerdem diesen komischen Vornamen. Der Name Louis war damals nicht geläufig und ich war halt ein Ausländerkind und wurde entsprechend behandelt."

Nach schweren Zeiten bei einem weiteren Bauern lernte Louis Schlosser und ging seinen Weg. Er entdeckte die Liebe zur Musik, gründete eine Familie, verlor bei einem tragischen Badeunfall seinen Sohn, lernte Anfang der 80er Jahre seine zweite Frau kennen und fand nun, im Alter von 66 Jahren endlich seine Schwester und damit ein weiteres Stück seiner Identität. "Was ich mir jetzt noch wünschen würde sind mehr Daten über unseren Vater, wenigstens ein Bild."

"Das Louis mich gefunden hat, dass macht mich sehr glücklich. Auch ich habe ja meine Wurzeln gesucht", sagte Bärbel Lorenz, die am vergangenen Mittwoch in Gehrendorf ankam und ihrem Bruder das erste Mal gegenüberstand. "Ich musste mich gestern immer mal kneifen, ich kann es noch gar nicht glauben", sagt die fröhliche Frau. Und sie erzählt: "Wir haben beide gar nicht gefremdelt. Schon am Telefon hatte Louis gesagt, ich bin dein großer Bruder. Und ich wollte schon immer einen großen Bruder haben. Dass es Louis gibt weiß ich ja erst, seit ich meine Mutter zum ersten mal sah. Da war ich 40 Jahre alt. Meine Mutter hatte große Schuldgefühle, wollte aber über meinen Vater und Bruder nicht sprechen. 1992 ist sie gestorben. Mit Louis habe ich nun ein Stück Familie wieder."

Fest steht für die beiden, dass die den Kontakt zueinander nicht mehr abreißen lassen wollen. Nach dem Besuch in Gehrendorf steht nun ein Gegenbesuch in Köln an, wo Bärbel Lorenz zuhause ist.