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Rund 600 französische Besatzer sterben 1813/14 im Typhus-Lazarett Barby / Soldatenfriedhof ist vergessen Scheintoter Soldat rettet sein Leben

Von Thomas Linßner 29.04.2015, 03:25

Kaum jemand kennt heute noch den Typhus-Soldatenfriedhof nördlich von Barby. Letztmalig trat er in makabere Erscheinung: Beim Bau einer Abwasserleitung vom Industriegebiet nach Calbe berührte man die Massengräber Mitte der 1990er Jahre.

Barby l 1947. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges sind ein paar Kinder auf der Suche nach etwas Essbarem unterwegs. Auf einem Ackerstück an der Pömmelter Chaussee haben sie ein paar Futterrüben "requiriert", die den kargen Speisezettel aufbessern helfen. Am Landgraben, wenige hundert Meter von der im Krieg beschädigten Zuckerraffinerie, finden sie aber noch Zeit, selbst ein wenig "Krieg" zu spielen. In den sandigen Boden werden Bunker gegraben. Plötzlich stoßen die Jungen auf Knochen. Nach wenigen Minuten wissen sie, dass es menschliche Überreste sind.

Jungen wird "Buddelverbot" erteilt

Da man mit derartigen Funden zur damaligen Zeit weniger offensiv umging als heute, blieb der Fund wochenlang vor der Öffentlichkeit verborgen. Erst als einer der Zehnjährigen in der Schule von "alten Menschenschädeln" erzählte, wurde man hellhörig. Nach einiger Recherche stellte die Polizei fest, dass zwischen der Gemarkung Gnätz und dem Landgraben Anfang des 19. Jahrhunderts ein Friedhof war. Weil dort Typhuskranke beerdigt wurden, verbot man den Jungen, dort weiter herumzubuddeln.

Am Ende der französischen Besatzungszeit wurde 1813 im Schloss Barby ein Lazarett für typhuskranke Soldaten des Belagerungskorps zu Magdeburg eingerichtet. Die Kranken kamen auf Schiffen in die Elbestadt. Bis zum Juni 1814 bestand das Lazarett, worunter das gerade mal hundert Jahre alte barocke Gebäude erheblich litt.

Im Januar 1814 befanden sich 800 Patienten in Pflege. Während des halbjährigen Lazarettbestehens behandelte man 1400 Typhuskranke. Gestorben sind etwa 600, die auf dem sogenannten Militair-Gottesacker beigesetzt wurden.

Bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichneten Pyramidenpappeln, die in Form eines Kreuzes gepflanzt waren, diesen Friedhof. Die Lebenszeit der Bäume, die maximal hundert Jahre ausmacht, war abgelaufen. Die Stadt sah auch keine Veranlassung dafür, den Ort durch Nachpflanzungen wieder kenntlich zu machen. In seiner Nähe war ein Industriegebiet erschlossen worden, auf dem eine Zuckerraffinerie, ein Hafen und die Maizena-Werke entstanden. Der alte, matschige Feldweg nach dem Vorwerk Monplaisir wurde betoniert. Dort testete die Barbyer Firma Witte den Betonstraßenbau, dessen Erfahrungen später beim Reichsautobahnbau verwendet wurden. Man spricht bei der "Maizena-Straße" sogar von einer der ersten Betonstraßen Deutschlands. Klar, dass in Zeiten des industriellen Aufschwungs keiner mehr an alte Friedhöfe in der Feldmark dachte.

Dem Ort mehr Beachtung schenken

Noch 20 Jahre zuvor schrieb der Ortschronist Karl Höse, "dass diesem für Barby historischen Ort mehr Beachtung geschenkt werden solle." Höse veröffentlichte in seiner 1901 erstmalig erschienenen "Chronik der Stadt und Grafschaft Barby" folgende makabere Episode, die verbürgt ist:

Im Typhuslazarett hieß einer der 23 Krankenwärter Kallmeyer. Er ging nicht besonders zart mit seinen Patienten um. Die Gestorbenen brachte er auf sehr einfache Weise die Treppe des Schlosses herunter. Was heißt, sie wurden nicht getragen, sondern pietätlos herunter geworfen. Wer tot ist, spürt keinen Schmerz mehr, dachte sich der abgestumpfte Kallmeyer.

Fischerfamilie pflegt den Soldaten gesund

Die verstorbenen Soldaten wurden mit einem Pferdefuhrwerk vor die Tore der Stadt gekarrt und dort in Massengräbern beibesetzt.

An manchen Tagen waren es über ein Dutzend. Stadtpfarrer Johann Gottfried Hermes war bei diesen Beisetzungen schon "Stammgast".

Die Ärzte waren überlastet, was Diagnosen betraf. So erwachte einer der als gestorben Diagnostizierten aus seinem Starrkrampf. Mit Schaudern sah er sich zwischen einer Menge Leichen liegen. Panikartig verließ er unbemerkt den Wagen und flüchtete zu einer Familie, die in den Fischerhäusern wohnte. Die fühlte sich verständlicherweise anfangs nicht wohl in ihrer Haut, als sich der Soldat als Typhuskranker zu erkennen gab. Trotzdem nahm sie ihn mitleidig auf und pflegte ihn gesund. Hätte der Starrkrampf eine Stunde länger gedauert, wäre es um den Mann geschehen gewesen.