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Hausganter fand auf wundersame Weise vom Kunsthof Augustusgabe zur Barbyer Fähre zurück Wie der alte Gänserich Egon verschenkt wurde, aber wieder nach Hause watschelte

Von Thomas Linßner 24.12.2011, 05:25

An der Barbyer Fährstelle lebt seit langer Zeit eine Gänseherde. Vorfahre der Truppe war ein wackerer Gänserich, der jahrelang sommers wie winters ein beneidenswertes, weil artgerechtes Dasein führte. Eine im Kern wahre Tiergeschichte.

Barby l Hausgänse können 20 Jahre alt werden. Wenn ihnen nicht Weihnachten in die Quere kommt.

Dessen war sich auch Gänserich Egon bewusst. Während seine Nachkommen alle Jahre wieder zum Weihnachtsfest auf sonderbare Weise die Erde verließen, konnte sich der "Jander", wie ihn sein Herrchen nannte, behaupten. Egon war schön, wehrhaft und stolz.

Kein Wunder, dass man so einen taufte, während der restliche Trupp nur "Gänse" gerufen wurde.

"Ihr braucht ein Charakter-Tier? Ich leihe euch eins aus. Ach was, ihr könnt es eigentlich gleich behalten"

Egon, also.

Egon vom Elbe-Saale-Winkel, sozusagen.

Nun begab es sich aber zu der Zeit, dass die Malwerkstatt des Kunsthofes Augustusgabe nach tierischen "Models" suchte. Immer nur Blüten, alte Töpfe oder vertrocknete Äpfel abzubilden, war den Künstlern langweilig geworden.

"Ihr braucht ein Charakter-Tier? Ich leihe euch eins aus. Ach was, ihr könnt es eigentlich gleich behalten", sagte Egons Herrchen Heino zur Kunsthofchefin. Er tat es nach dem Motto: Du alter Egon hast schon genug in deinem Leben geleistet: für Küken gesorgt, Fremde angezischt oder den Rasen bekackt, aber auch kurz gehalten. Jetzt kannst du deinen Lebensabend in Ruhe verbringen, wo kein Fuchs sich hinwagt.

In der Augustusgabe, wo allerlei glückliches Getier lebt, könnte Egon seine letzten Jahre in würdevoller Ruhe verbringen. Außerdem ginge er vielleicht in die Annalen der Kunst ein und würde ganz in Öl oder Aquarell einst im Louvre, zumindest in der Galerie des "Prinzeßchen" hängen.

Also schnappte Herrchen Heino den Ganter, der mit viel Gezeter in eine Kiste gesperrt wurde. Nach kurzer Fahrt war er in seinem neuen Domizil.

"Schöne, weiße Gänslein, die ich beschützen und vor allen Dingen im Frühling auch ..."

Eine riesige Streuobstwiese, Koppelzäune aus krummen Weidenhölzern und eine Katze, die ihn von der Seite skeptisch anschielte, waren seine ersten Eindrücke. Auch der schwappevolle Teich gefiel Egon.

Auf der Suche nach weiblichen Artgenossen kam jedoch die Ernüchterung. Über seinem Kopf flatterten zarte Hochzeitstauben herum, Hühner gackerten im Zwinger, ein schwarzes Schwein wackelte heran, dessen dicker Bauch eine Schleifspur im Sand hinterließ.

"Weißt du, wo du hier gelandet bist? "Die Menschen hier haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun"

"Aber wo sind die Frauen?", dachte sich Egon entsetzt. "Schöne, weiße Gänslein, die ich beschützen und vor allen Dingen im Frühling auch ..." Doch er kam mit seinen amourösen Gedanken nicht bis zum Ende, weil ihn ein zotteliger Hund anknurrte. "Weißt du, wo du hier gelandet bist? Die Menschen hier sind nicht viel besser, als flatternde Tauben", brummte er. "Die haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun." Hund Tyras erzählte Egon von einem Theaterstück, für das man einem Esel zwei Höcker auf den Rücken gebunden hatte. Warum? Er sollte in der Weihnachtsgeschichte mitspielen, wo die Heiligen drei Könige mit einem Kamel ankommen. In Ermangelung eines echten Wüstentieres staffierte man den armen Esel dazu aus.

Egon bekam einen Schreck. Vielleicht würde er zu Weihnachten ein Engelchen spielen müssen, das auf einer Weide sitzt und Halleluja trompetet.

Dann lieber an der Elbe dem Fuchs ausgesetzt sein.

Der Gänserich entschloss sich zur Flucht. Seinem ureigenen Instinkt folgend entdeckte er einen Graben, der in nordwestliche Richtung führte, obwohl sein Heim im Süden lag. Die Menschen nannten ihn Landgraben. Egon paddelte am Friedhof vorbei, zwischen Schrebergärten hindurch bis er zu einer Brücke kam, die ihm irgendwie gefiel. Es war die "Gänsebrücke" am Magdeburger Tor.

Weiter führte ihn sein Weg - die Elbe und damit die Gräben hatten leichtes Hochwasser - nordwärts. Er würde diesem Wasserlauf immer weiter bis Glinde folgen können. Aber was sollte ein Barbyer Gänserich dort. An einem Ort, dessen Menschen nach Kuckucken benannt sind.

Also entschloss sich Egon an Land zu gehen. Als gebildeter Fährhaus-Wasservogel spürte er, dass die Elbe nur einige hundert Meter entfernt war. Auf seinem Weg lag ein Supermarkt. Einkäufer, die Egons Artgenossen tief gekühlt im Beutel hatten, zuckten zusammen, als sie ihn sahen. Ein Gänserich mitten in der Stadt? Wo soll das nur hinführen. Der behindert vielleicht noch parkende Autos, hackt kleine Kinder oder hat sogar die Tollwut ...

"Alter Egon, du verrücktes Huhn! Du bleibst bei uns. Da kann kommen, was will. Sogar Weihnachten"

Egon ignorierte sie, watschelte zielstrebig über die Straße der Elbe entgegen. Dabei hätte ihn fast ein Broilerwagen überfahren ...

Nun dauerte es nicht mehr lange und er war wieder Zuhause. Am Fährhaus, wo ihn seine Gänsefrauen schon vermissten. Herrchen Heino eigentlich auch.

"Alter Egon, du verrücktes Huhn! Du bleibst bei uns. Da kann kommen, was will. Sogar Weihnachten", sagte er und wischte sich ein kleines Tränchen aus dem Augenwinkel.

Alles war gut.

Und die Moral von der Gesicht? Einen alten Ganter verschenkt man nicht!