1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Stendal
  6. >
  7. 15 Jahre Hospiz: Ein Haus des Lebens

Keine Sterbehilfe, sondern lindernde Fürsorge - das ist Aufgabe des Hospizes 15 Jahre Hospiz: Ein Haus des Lebens

11.09.2013, 01:17

Vor 15 Jahren nahm in Stendal das Hospiz seine Arbeit auf, nach Halle war es das zweite Hospiz in Sachsen-Anhalt. Nora Knappe sprach mit Seelsorger Pastor Ulrich Paulsen, Pflegedienstleiterin Ramona Höppner-Nitsche und der Koordinatorin des Ambulanten Hospizdienstes, Gundis Gebauer, über den Umgang mit Tod und Trauer, über die Bedeutung von Hoffnung und darüber, ob sich Hospizgedanke und Heilungsanspruch der Medizin ausschließen.

Volksstimme: Im Hospiz wird geraucht, gescherzt, gefeiert und sogar geheiratet - war der Umgang mit Ihrer Arbeit, mit dem Thema Tod von Anfang an so locker-lebendig?
Ulrich Paulsen: Ja, es war von Anfang an so gedacht gewesen, und je nach Neigung der Mitarbeiter und Verfassung der Bewohner wird das bis heute so umgesetzt. Das Hospiz ist ein Haus des Lebens, und dieser Gedanke hat sich über die Jahre verstärkt.

Ramona Höppner-Nitsche: Es denken ja viele, hier geht es tieftraurig zu. Sicher, wird hier auch geweint, aber es ist alles an Stimmungen da, die das Leben sonst auch bietet.

Volksstimme: Was hat sich an der Idee Hospiz und an ihrer Umsetzung seit 1998 geändert?
Paulsen: Ich hätte mir vor 15 Jahren nicht träumen lassen, dass wir so gut dastehen würden: mit einem tollen Kreis an Ehrenamtlichen und einem einfallsreichen Team, das bereit ist, auch Krisensituationen zu meistern - das ist der größte Schatz. Und ich halte es für ein großes Wunder, dass es immer wieder mit dem Spendenfluss klappt. Eine glückliche Fügung war für das Hospiz, dass die Häuser, in denen wir uns heute befinden, damals zum Verkauf standen. Die Beengtheit im Mutterhaus, wo das Hospiz ja seinen Anfang nahm, entsprach nicht den gesetzlichen Vorgaben. Das Hospiz hat einen guten Standort, die Nähe zum Krankenhaus ist wichtig.

Höppner-Nitsche: Ein starker Wandel ist auch dahingehend spürbar, dass wir strengere Kontrollen bestehen müssen. Wir unterliegen dem Heimstandard, werden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen geprüft.

Volksstimme: Hat sich in den 15 Jahren Routine eingestellt?
Höppner-Nitsche: In bestimmten Abläufen ja, aber trotzdem sind die Situationen immer wieder verschieden.

Paulsen: Auch wir sind keineswegs abgeklärt, wenn es einen Todesfall gibt. Die berufliche Erfahrenheit und Sachlichkeit bewahrt einen ja nicht vor Emotionen und Erschütterung. Und wenn es jemanden aus dem Familien-, Bekannten- oder gar Mitarbeiterkreis betrifft, ist das Gefühl nochmal anders. Ich denke, wir sind in den 15 Jahren auch vorsichtiger geworden in unseren Versprechen und Zusagen. Haben wir anfangs noch von "schmerzfrei" gesprochen, sagen wir mittlerweile "schmerzarm". Und der Anspruch "Keiner soll allein sterben" ist nicht allgemeingültig - manch einer wünscht sich genau das. Jeder Weg ist individuell, unsere Aufgabe ist es, das zu respektieren.

"Die Begleiter haben eine auffangende Art"

Volksstimme: Berührungsängste und Hemmschwellen im Zusammenhang mit Tod und Sterben wird es immer geben. Ist es für Sie ein dauernder Kampf, dagegen anzugehen?
Höppner-Nitsche:Ich sehe es nicht als Kampf. Wer setzt sich denn schon, bevor es ihn selbst betrifft, mit diesem Thema auseinander? Für viele ist es ein Tabu, und die Vorstellung, sterben zu müssen, macht vielen Angst. Fest steht aber: Wer einmal als Gast oder Angehöriger bei uns im Hause war, geht positiv gestimmt wieder raus. Aber die Hemmschwelle ganz abzubauen, werden wir sicher nie schaffen: Sterben bedeutet Angst und Verlust, das ist doch menschlich.

Paulsen: Wichtig ist, dass wir diese Hemmschwelle so niedrig wie möglich halten. Jeder, der hierherkommt, soll merken, dass er willkommen ist - egal ob es ein Handwerker ist, der Postbote oder jemand, der einen Strauß Blumen bringt.

Volksstimme: Woher kommt das große Vertrauen der Familien, die die ambulanten Begleiter in ihr Privatleben lassen?
Höppner-Nitsche: Es ist die Art des Umgangs der Begleiter, sie erklären ganz unaufgeregt und offen ihre Arbeit, sagen, was zu tun ist. Da merken die Leute, dass auch sie offen reden können, dass jemand zuhört und sie versteht. Und sie merken, dass es ihnen gut tun kann, darüber mit jemandem zu reden, der nicht zur Familie gehört.

Paulsen: Ich höre immer wieder, dass die ehrenamtlichen Begleiter eine strahlende, auffangende und annehmende Art haben. Aber es bleibt auch immer ein Stück Geheimnis dabei, wieso die Menschen sich öffnen.

Gundis Gebauer: Für viele ist die größte Schwierigkeit, überhaupt Hilfe anzunehmen. Aber viele sind einfach so weit, so erschöpft, dass sie Hilfe brauchen. Wichtig ist, sich nicht mehr vor dem Tod zu fürchten, der Tod ist eben das, was kommt am Ende des Lebens. Und da wir diese Haltung haben, wirkt das auch auf andere befreiend.

Volksstimme: Der Umgang mit Tod und Trauer ist in anderen Ländern weit fröhlicher, ungehemmter. Wünschen Sie sich etwas weniger Bedrücktheit hierzulande?
Paulsen: Ich wünsche mir, dass wir Trauer offener leben, damit sie natürlich und für Kinder zugänglich wird, ihren Schrecken verliert. Außerdem fände ich es schöner, wenn Friedhöfe nicht nur zum Totengedenken genutzt werden, sondern auch als Parkanlage, die dem Leben dient.

Höppner-Nitsche: Das fände ich auch gut, ich habe als Kind viel auf dem Friedhof gespielt, es war wie ein großer Park für uns. Und wir haben dort sogar auch Picknick gemacht.

Gebauer: Das kenne ich aus meiner Familie auch. Zu Ihrer Frage: Es muss ja keine Revolution der Trauerkultur sein, aber ein Aufbrechen des individuellen Umgangs, zum Beispiel bei der Gestaltung von Trauerfeiern, ist schon zu merken.

Paulsen: Wir müssen lernen, mit dem abschiedlichen Leben umzugehen. Und das wollen wir ja zum Beispiel auch durch unser Projekt "Hospiz macht Schule" frühzeitig angehen, indem wir mit Grundschülern über Tod und Trauer reden.

Volksstimme: Welchen Raum nimmt Hoffnung in Ihrer Arbeit ein?
Höppner-Nitsche: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es ist wichtig, dass wir die Hoffnungen unserer Bewohner ernstnehmen. Denn für viele ist das etwas, woran sie sich klammern in ihren letzten Tagen und Stunden. Sicher, wir dürfen ihnen keine falschen Versprechungen machen, aber ihnen auch nicht ausreden, was sie empfinden.

Gebauer: Bei der Frage, worauf man Hoffnung setzt, kommt man ganz schnell in den geistlichen Bereich, wo einige an ein "Leben danach" denken. Hoffnung kann viel bewirken. Ich denke da an einen Mann, der bei uns war, kurz bevor er 40 wurde. Ich wollte ihm etwas Gutes tun, bin mit ihm eine Runde rausgegangen, und ich habe gesehen, wie seine Augen geleuchtet haben. Das hat gezeigt: Auch wenn es zu Ende geht, kann noch viel Gutes, Schönes passieren - hoffnungsvolle Momente eben.

Paulsen: Manchmal trägt die Hoffnung dazu bei, dass für die Bewohner ihre Angst nicht so groß ist. Es gibt Situationen von Hoffnung, in denen der Mensch von sich selbst schon absieht, aber eine Hoffnung für seinen Ehepartner, seine Kinder oder eine Aussöhnung in der Familie hat. Und dann ist da auch bei manchem die Hoffnung: Ich werde auf der anderen Seite erwartet.

"Wir können das Sterben nicht schöner machen"

Volksstimme: Welche Rolle spielt der Glaube oder die Religion dabei?
Paulsen:Es kommt vor, dass Menschen im Sterben spiritueller werden, sie fühlen: Ich gehe nicht verloren, wenn ich von dieser Welt gehe. Aber es kommt auch vor, dass gerade dann jemand seinen Glauben verliert, enttäuscht ist von Gott.

Gebauer:Egal ob kirchliches Ritual oder ein Glaube an etwas, wovon wir nichts wissen: Es ist wichtig, dass wir für alle Bedürfnisse da sind, ohne den Menschen etwas aufzudrücken.

Volksstimme: Nicht jeder, den Sie im Sterben begleiten, ist gelassen, sondern voller Angst...
Höppner-Nitsche: Das ist in der Tat eine Herausforderung für uns. Manchmal liegen bei dem, der geht, noch ungeklärte Dinge an oder er trägt Erlebnisse mit sich rum, unter denen er noch immer leidet. Eine große Rolle spielt natürlich auch, welche Symptome der Sterbeprozess mit sich bringt.

Gebauer: Sterben ist nicht immer friedlich, auch wenn wir es uns alle wünschen, und das muss man aushalten. Wir können das Sterben nicht schöner machen.

Paulsen: Wir ahnen ja nicht, was in einem Leben von 70, 80 oder 90 Jahren an Erlebtem oder auch an Gewalt passiert ist. Und vor allem: Wir können ja gar nicht nachvollziehen, wie es sich anfühlt, wenn der Gehirntumor immer weiter wächst und man langsam die Kontrolle über sich verliert.

Volksstimme: Der Hospiz- Gedanke hat das selbstbestimmte Leben zur Grundlage. Gibt es da Widersprüche zur Arbeit der Pflegeheime?
Paulsen: Wenn man Hospiz als Haltung und nicht nur als Institution begreift, dann sollte die Hospiz-Idee auch in Pflegeheimen durchgesetzt werden. Das ist natürlich nicht einfach zu realisieren...

Gebauer:Die Tendenz geht aber dahin, dass Heime nicht mehr riesige Bauten mit hunderten Betten sind, sondern kleiner und eher WG-ähnlich. Und in Stendal und Umgebung gibt es schon eine gute Zusammenarbeit mit den Pflegeheimen, was die ambulante Begleitung angeht. Wenn einmal klar ist, dass wir keine Konkurrenz sind, spüren wir großes Entgegenkommen.

Paulsen: Und man muss bedenken: Selbstbestimmt um jeden Preis funktioniert sowieso nicht. Darüber sollte sich jeder rechtzeitig bewusst sein.

Volksstimme: Wie sieht es aus mit dem Widerspruch zwischen Hospizgedanke und Heilungsanspruch der Medizin?
Höppner-Nitsche: Zum Teil gibt es Skepsis gegenüber der Hospizarbeit, was nicht böse gemeint ist. Denn die Mediziner wollen eben alles versuchen, um ein Leben zu retten oder zu verlängern.

Paulsen: Es ist ja auch nicht immer eindeutig, wann nichts mehr geht. Und wenn ein Arzt zum Beispiel einen Krebspatienten schon jahrelang kennt und betreut und jetzt noch eine 10-Prozent-Chance sieht, dann will er die nutzen und sie seinem Patienten geben.

Gebauer: Auch mancher Patient will ja bis zum Schluss kämpfen, will noch drei oder vier Wochen gewinnen.

Volksstimme:Von Mitarbeitern und Ehrenamtlichen hört man oft, dass sie in der Arbeit im Hospiz das Zuhören, Zeithaben und Empathie gelernt haben. Und gelernt haben, den Blick aufs Wesentliche zu richten. Kann man also sagen, dass das Hospiz eine Schule fürs Leben ist?
Paulsen: Ja, das kann man so sagen. Hospiz ist nicht nur eine Institution, ein Gebäude, sondern eine Haltung, eine Idee.

Höppner-Nitsche: Wir werden durch unsere Arbeit immer wieder für die wesentlichen Dinge sensibilisiert. Diese soziale Kompetenz lässt man auch nicht an der Tür zurück, wenn man Feierabend hat.

Paulsen: Das gilt genauso für die Ehrenamtlichen und ihre Familien. Da ist eine hohe Akzeptanz für das Engagement. Und viele Ehrenamtliche selbst haben erst durch die Hospiz-Arbeit Stabilität für ihr eigenes Leben gefunden. Sie spüren wieder Sinn.