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Ist man irgendwann zu alt zum Lernen? / Interview mit der Psychologin und Hochschulprofessorin Claudia Wendel "Ab 30 brauchen wir mehr Zeit und Wiederholungen"

19.02.2011, 04:31

Lernen im Alter – können wir das unbeschränkt? Was passiert im Gehirn? Lernen alte Menschen anders als jüngere? Volksstimme-Redakteurin Nora Knappe sprach über dieses Thema mit Claudia Wendel, seit 2007 Professorin für Klinische Neuropsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH).

Volksstimme: Ist man irgendwann zu alt zum Lernen?

Prof. Dr. Claudia Wendel: Nein. Wir sind lebenslang in der Lage zu lernen. Diese Fähigkeit verdanken wir der Plastizität des Gehirns, die zeitlebens erhalten bleibt.

Volksstimme: Baut das Gehirn mit dem Alter ab oder ist das eine überholte Erkenntnis? Wenn es abbaut – kann man es wieder zum Wachsen bringen? Oder muss man sich damit abfinden, dass man im Alter nicht mehr so aufnahmefähig ist?

Wendel: Einige wissenschaftliche Ansichten mussten in der Zwischenzeit revidiert werden. Es ist nicht mehr davon auszugehen, dass das Alter mit einem generellen Abbauprozess und einem allgemeinen Funktionsverlust kognitiver Leistungsfähigkeit einhergeht. Die altersspezifischen Veränderungen wurden genauer untersucht, es liegt nun eine differenzierte Erkenntnislage vor.

Insgesamt ist davon auszugehen, dass sich kognitive Prozesse im Alter ändern, so dass Lernen unter speziellen Vorzeichen stattfindet. So brauchen wir schon ab dem dritten Lebensjahrzehnt mehr Zeit und Wiederholungen, um Inhalte sicher im Langzeitgedächtnis zu speichern. Und die so genannte Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit nimmt kontinuierlich ab. Andererseits sind auch positive Entwicklungen zu verzeichnen, so liegen etwa wissenschaftliche Studien vor, die das Phänomen der "Altersweisheit" belegen. Das heißt, dass unser Wissen über die Welt (das semantische Gedächtnis) Alterungsprozessen unterworfen ist – in positiver Richtung!

Volksstimme: Lernen alte Menschen anders als junge?

Wendel: Ja, alte Menschen lernen etwas langsamer, brauchen mehr Wiederholungen und sind (im Durchschnitt) etwas unflexibler in ihren Denkprozessen. Andererseits gibt es auch Belege dafür, dass Lernprozesse besser organisiert werden und dass ältere Menschen von ihrer Erfahrung insofern profitieren können, als sie besser zwischen wichtigen und unwichtigen Lerninhalten unterscheiden können.

Volksstimme: Was passiert im Gehirn, wenn man im Alter etwas Neues erlernt?

Wendel: In jeder Altersphase passiert das Gleiche: Das Gehirn wird durch Lernen verändert, das ist mit der Plastizität gemeint. In bestimmten gedächtnisrelevanten Strukturen werden neue synaptische Verbindungen zwischen Nervenzellen ausgebildet oder bestehende Verbindungen verstärkt.

Volksstimme: Hilft sogenannter Denksport gegen Vergesslichkeit und Hirnträgheit?

Wendel: Es ist absolut zu begrüßen, wenn Menschen zeitlebens Herausforderungen suchen und sich anspruchsvollen geistigen Aufgaben stellen. In einigen neueren Studien wird auch untersucht, inwiefern Kombinationen aus körperlicher Bewegung und kognitivem Üben Präventionseffekte hinsichtlich Erkrankungen wie Demenzen haben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass vor allem auch die sozialen Aktivitäten, die durch das gemeinsame Üben gefördert werden, einen wichtigen Einfluss auf Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit haben. Ich möchte aber auch davor warnen, das sogenannte "Hirnjogging" zum Allheilmittel zu erklären: Das Gehirn ist kein Muskel, der beliebig trainiert werden kann.

Ich finde es toll, dass Frau Scherrmann (siehe Beitrag oben, Anm. d. Red.) beginnt, ein Instrument zu lernen. Das sollte viele andere inspirieren – ich kann mir das auch gut vorstellen für mich selbst.