1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Als die Flut kam, hat keiner hingesehen

Im Magdeburger Hafen hat ein langsam überlaufendes Hafenbecken für eine Katastrophe gesorgt Als die Flut kam, hat keiner hingesehen

Von Oliver Schlicht 18.06.2013, 03:21

Magdeburg. Vierzehn Stunden lang konnte ein Hafenbecken in Magdeburg weitgehend ungehindert auslaufen. Dann war das Hochwasser von Rothensee kaum noch zu bändigen. Wer hat Schuld? Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

Sperrmüllhaufen neben Sperrmüllhaufen. Viele Straßen im dörflichen Magdeburger Stadtteil Rothensee gleichen derzeit einem Trümmerfeld. Ab Sonnabendmittag, 8. Juni, hatten sich die Wassermassen des Elbe-Hochwassers weitgehend ungehindert durch eine abfallende Straße vom gefluteten August-Bebel-Damm in die tiefer gelegene Ortschaft ergossen. Hunderte Keller und viele Erdgeschosse liefen in Rothensee voll. Jetzt herrscht Frust.

Und Zorn. Anwohner Werner Misch blickt am Rand der Hohenwarther Straße in ein über ein Meter tiefes Loch im Asphalt. Die halbe Straße wurde weggespült. "Eine Liste geht gerade um", erzählt er. Die Bürger erfassen, wer sich alles einer Sammelklage anschließen möchte. "Ich habe auch unterschrieben. Aber ich bin noch etwas unsicher", erzählt Misch.

Schließlich gab es einen guten Grund, Rothensee "absaufen" zu lassen, wie man dort jetzt sagt. Das nur etwa 500 Meter entfernte Umspannwerk zu retten, war wichtig. Und im Technischen Polizeiamt daneben stehen wichtige Server für den digitalen Behördenfunk. An beiden Gebäudekomplexen vorbei wurde das Wasser durch den Deichbau auf dem August-Bebel-Damm hinüber zur Ortslage regelrecht kanalisiert.

Im Industriehafen war kein Deich gebrochen

Aber wieso konnte überhaupt Wasser das Umspannwerk, das Technische Polizeiamt und schließlich die 2500-Einwohner-Ortslage Rothensee erreichen? Im unweit entfernten Industriehafen war kein Deich gebrochen. Die Antwort ist einfach: Das Hafenbecken II am MUT-Tanklager im Industriehafen hatte etwa vierzehn Stunden Zeit, um überzuschwappen und sich langsam etwa 80 Meter weit in Richtung August-Bebel-Damm auszudehnen. Erst als das Wasser in Straßennähe stand - am Freitag, 7. Juni, gegen 20 Uhr - begannen Kräfte des Technischen Polizeiamtes mit aktiven Gegenmaßnahmen. Zuvor hatten sie ihren eigenen Gebäudekomplex eingedeicht.

Wie konnte das passieren? Oberbürgermeister Lutz Trümper: "Ich werde das Protokoll der Ereignisse in Rothensee Stunde um Stunde und Minute für Minute klären lassen. Erst dann kann ich dazu eine Aussage machen." So sei aus seiner Sicht nicht klar, ob das Wasser nur aus dem Hafenbecken oder auch direkt am Verbindungskanal übergetreten sei. Warum hat er nicht früher Abwehrmaßnahmen organisieren lassen? "Weil ich von den Ereignissen in Rothensee zunächst überhaupt nichts gewusst habe", sagt Trümper. Er sei nicht informiert worden. Weder bei einer Krisenstabsitzung am Sonnabend um 8 Uhr früh noch bei einer Sitzung vier Stunden später um 12 Uhr. Trümper: "Erst bei einem Überflug am Sonnabend gegen 13 Uhr habe ich plötzlich gesehen, dass der August-Bebel-Damm überflutet ist."

Zurück zum Mittwoch vor der Flut. Am Morgen tagt der Krisenstab. Leiter: Ordnungsdezernent Holger Platz. Mit dabei auch Karl-Heinz Ehrhardt, Chef der städtischen Hafen GmbH, also der Besitzer und Verpachter der Flächen und Kaianlagen. Die Lage im Hafen wird ausgewertet. Wo könnte es Probleme geben? Ehrhardt: "Ich habe deutlich darauf hingewiesen, dass das Hafenbecken II ein sensibler Bereich ist." Es habe da nur immer geheißen, bis zu den prognostizierten 7,20 Meter Wasserscheitel sei das Hafenbecken sicher.

Auf dem August-Bebel-Damm vorbei an THW und Feuerwehr

Am Donnerstag reist Ehrhardt nach Düsseldorf. Ein Privatbesuch bei der schwer kranken Tochter. Er kommt erst am späten Freitagabend zurück - und fährt über den August-Bebel-Damm vorbei an THW und Feuerwehr. Trotzdem spricht er am nächsten Morgen nicht mit Trümper bei der Krisenstabsitzung über die Situation im Hafen. Warum nicht? "Bei den vielen Einsatzfahrzeugen? Ich dachte, die wissen alle Bescheid."

Waren tags zuvor am Freitag im Laufe des Tages Mitarbeiter der Hafen GmbH am Hafenbecken II, um die Lage zu kontrollieren? Ehrhardt: "Nein. Die waren alle am Hanse-Terminal zwei Kilometer entfernt." Einen Fehler sieht Ehrhardt darin nicht. "Unsere Aufgabe ist es, die Hafenanlieger zu schützen, nicht die Stadt. Der Anlieger, das MUT-Tanklager, sah seine Anlagen durch das Wasser nicht gefährdet. Und die Stadt haben wir im Katastrophenstab bereits am Mittwoch informiert", so der Hafenchef.

Bestehende Kaimauer mit Sandsäcken erhöht

Das Hanseterminal - der Containerumschlagplatz des Hafens - war gut gesichert. Auf Initiative des Katastrophenstabes hatten THW und Bundeswehr schon Tage vor dem Hochwasser die bestehende Kaimauer auf einer Länge von drei Kilometern erhöht - vom Glindenberger Weg Nähe Autobahn A2 bis zum Beginn des Hafenbeckens II. Dort hatten sie aufgehört. An der seitlichen Kaimauer des Hafenbeckens entlang hatten das Prokon-Bioölwerk und der Beiselen-Saatguthandel eigene Schutzdämme errichtet. Das sich anschließende Firmengelände des MUT-Tanklagers führt dann - überwiegend völlig ohne Sandsackwall - fast vollständig um das Hafenbecken herum.

Das Tanklager gehört zur Bremer Dettmer Group KG. Firmeninhaber Heiner Dettmer war am Sonnabend nach Magdeburg gekommen, wurde aber bereits Freitag früh telefonisch informiert. "Unser Geschäftsführer vor Ort sagte mir, dass das Wasser in der Nacht vom Donnerstag zu Freitag die Hafenbeckenkante überschritten hat und steigt", erzählt Dettmer. Anlass, deswegen Alarm zu schlagen, sah die MUT-Geschäftsführung nicht. Heiner Dettmer: "Zum einen, weil unsere Anlagen absolut hochwassergeschützt sind. Zum anderen, weil die Feuerwehr Braunschweig am Freitag längere Zeit auf unserem Gelände war. Die hatte wohl Angst vor einer Umweltkatastrophe."

Feuerwehr Braunschweig war am Hafenbecken II

Die Feuerwehrkräfte aus Braunschweig konnten vermutlich die Brisanz des überlaufenden Hafenbeckens nicht erkennen, weil sie ortsunkundig sind. Und der Katastrophenstab holte am Freitag keine Informationen ein über die Lage am Hafenbecken II, weil er von einem Maximalpegel von 7,20 Meter ausging.

Nur so ist zu erklären, dass dort nicht sofort Sicherungsmaßnahmen begannen. Trümper: "Ich habe erst am Freitag um 16 Uhr erfahren, dass der Pegel schon am Sonnabendmorgen über 7,30 Meter steigen soll." Bis dahin haben alle mit 7,20 Meter gerechnet.

Der Oberbürgermeister sieht für die Zukunft nur eine Chance, Rothensee vor Hochwasser zu schützen: "Der gesamte Hafen muss mit Schleusen und Spundwänden komplett vom Hochwasser abgeschottet werden. Nur das bietet wirklich Schutz."

Katastrophenstab-Chef Holger Platz hat nach Darstellung von Hafen-Chef Karl-Heinz Ehrhardt im Stab die Devise ausgegeben: Um die Industriebetriebe kümmern wir uns nicht, die schützen sich selbst. Wir schützen die Bevölkerung. Das klingt erst einmal gut. Das MUT-Tanklager hat sich aber nicht geschützt, weil es Schutz nicht nötig hatte. Und hat damit - unbewusst - die Bevölkerung gefährdet. Der Katastrophenstab hatte die Möglichkeit eines solchen Szenarios offenbar nicht auf der Rechnung.