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Todesangst lässt Familie eines Dolmetschers der deutschen Polizei von Kabul in den Harz fliehen Afghanistan: Bedrohte Helfer suchen Zuflucht

Weil sie für die deutsche Polizei oder Bundeswehr in Afghanistan
gearbeitet haben, sind dort nach Abzug der Einsatzkräfte deren
Übersetzer in Gefahr. Für die Taliban sind sie Verräter. Die ehemaligen
Helfer suchen nun Schutz in Deutschland. Einer von ihnen kam mit seiner
Familie in Sachsen-Anhalt an.

Von Matthias Fricke 25.02.2014, 17:59

Magdeburg l Noorullah Z. wohnt seit Anfang Februar mit seiner Familie in einer kleinen Plattenbauwohnung im Harz. Noori, wie der Dolmetscher von allen gerufen wird, ist darüber glücklich. Auch wenn die Vierraumwohnung für seine zehnköpfige Familie (vier Töchter, zwei Söhne, seine sechs Monate alte Enkelin sowie die Schwiegertochter) sehr eng bemessen ist. Jeder Zentimeter wird deshalb ausgenutzt. Im Wohnzimmer steht das Doppelstockbett der Kinder neben einer gespendeten Couchgarnitur. Das alles macht der Flüchtlingsfamilie nichts aus. Hauptsache sie sind in Sicherheit. Auch wenn diese rund 6000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt zu finden ist.

Zwölf Jahre lang hat der Dolmetscher für die deutsche Polizei in Kabul gearbeitet. Die Beamten sollten die örtlichen Behörden beim Aufbau neuer Sicherheitsstrukturen unterstützen.

"Ich habe mich dabei eigentlich immer recht sicher gefühlt", sagt er. Doch seit einigen Jahren verschlimmert sich die Lage in Afghanistan. Es gibt immer wieder Opfer, die Masse sind Einheimische.

Die Taliban versuchten und versuchen mit allen Mitteln, die Machtübergabe an die neue Regierung zu torpedieren. Noori sagt: "Inzwischen gibt es zwei bis drei Anschläge pro Tag in Kabul." Die Sicherheitslage sei sehr instabil.

Doch das alles ist nicht der Auslöser, warum der Dolmetscher aus seinem Land fliehen musste. Auch nicht die permanente Todesangst um drei seiner Töchter, die von Anfang an die Schule in Kabul besuchen. In seinem Land ist das ganz und gar keine Selbstverständlichkeit. Die Taliban griffen immer wieder in den letzten Jahren Mädchenschulen an und verstümmelten die Schülerinnen bei ihren Angriffen, nur weil sie etwas lernen wollten.

"Das war vermutlich eine letzte Warnung, die sagt: Haut endlich ab!" - Noorullah Z., afghanischer Dolmetscher

Die pro-westliche Einstellung des Dolmetschers wird auch immer häufiger von seinen Nachbarn und Freunden wahrgenommen. Sie fragen ihn bereits: "Noori, warum machst du das eigentlich?" Er antwortet darauf: "Weil ich die Deutschen eben mag."

Seine guten Sprachkenntnisse hat er aus seiner Zeit der Militäroffiziersschule in Prora auf der Insel Rügen. Dort war er von 1982 bis 1985 stationiert, als Afghanistan noch von der kommunistischen Volkspartei regiert wurde und die DDR als Verbündeter sein militärisches Wissen den "Waffenbrüdern" zur Verfügung stellte.

Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen 1992 und dem Kriegschaos, in dem das Land versank, flüchtete der Afghane das erste Mal aus seiner Heimatstadt Kabul. Damals nach Pakistan. Erst 2002 kehrte er nach Afghanistan in seine Heimat zurück. Noori wurde zunächst Dolmetscher für das Kontingent der Bundeswehr und später für die deutschen Polizeieinheiten. Bis zum Schluss arbeitete der Übersetzer im örtlichen Büro von Eupol, der European Union Police Mission in Afghanistan.

Gedanklich bereitet er sich aber immer mehr auf eine mögliche Flucht aus seinem Heimatland vor. Denn die Lage wird mit dem Abzug der internationalen Truppen immer instabiler.

Dann, am ersten Weihnachtsfeiertag des vergangenen Jahres, passiert der immer gefürchtete Anschlag: Nooris Sohn ist auf dem Weg von seinem Englischkurs im Stadtzen­trum von Kabul nach Hause. Sein Schwager begleitet ihn an diesem Tag eher zufällig. Dann kommen zwei Unbekannte auf beide zu, bekippen sie mit Säure und wollen seinen Sohn offenbar entführen. Sie zerren wild an ihm, wollen ihn wegschleifen. Nur weil der Schwager heftige Gegenwehr leistet, verschwinden die Täter wieder.

Während sein Sohn bei der Säureattacke recht glimpflich davongekommen ist, hat es Nooris Schwager schlimmer erwischt. Er liegt in Pakistan mit schweren Verletzungen noch immer im Krankenhaus.

Für den Dolmetscher wird schnell klar: "Das war vermutlich eine letzte Warnung, die sagt: Haut endlich ab!" Danach geht alles ganz schnell. Die deutschen Behörden genehmigen die Ausreise nach Deutschland. Er erhält sogar ein Visum mit Arbeitserlaubnis.

Harald Neymann, Sprecher im Bundesinnenministerium: "Die in Afghanistan arbeitenden Ressorts sind sich ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren afghanischen Mitarbeitern bewusst. Das gilt insbesondere für all jene, deren Beschäftigungsverhältnis aufgrund der Reduzierung der deutschen Präsenz in Afghanistan endet."

Bislang würden der Bundesrepublik aktuell 796 "Gefährdungsanzeigen" durch die sogenannten Ortskräfte (einheimische Helfer) der Deutschen vorliegen.

258 Aufnahmezusagen seien bereits erteilt worden. 31 Afghanen sind zusammen mit ihren Familien bislang nach Deutschland ausgereist, insgesamt 113 Personen, so das Bundesinnenministerium.

Die gefährdeten bzw. ausscheidenden Mitarbeiter vor Ort würden ein Informationsblatt in den gebräuchlichen Landessprachen über Möglichkeiten zur Weiterbeschäftigung, Weiterbildung sowie für den Fall einer Bedrohung erhalten.

"Jeder gefährdeten Ortskraft bietet die Bundesregierung die Aufnahme in Deutschland an." - Harald Neymann, Bundesinnenministerium

Neymann: "Jeder gefährdeten Ortskraft bietet die Bundesregierung die Aufnahme in Deutschland an."

Allerdings werde dabei jeder Einzelfall geprüft. Die Gefährdungssituation gestalte sich regional sehr unterschiedlich und variiere je nach Beschäftigung und Region. Es mache schon einen Unterschied, ob jemand als Dolmetscher oder Reinigungskraft gearbeitet hat. Ergibt sich aus der Prüfung eine Gefährdung der Ortskraft, werde eine Aufnahmezusage erteilt. Es steht dann den Betroffenen offen, auch zusammen mit der "Kernfamilie" nach Deutschland auszureisen.

So wie Noori, der nun mit seiner Familie im Übergangsquartier der Plattenbauwohnung sitzt. Er ist hier aber nicht allein in der Fremde. Seine ehemaligen Arbeitskollegen, Polizisten aus ganz Deutschland, kümmern sich um ihn.

Einer, der sich privat sehr für die Familie engagiert, ist Axel Vösterling. Der Polizeihauptkommissar im Technischen Polizeiamt war in den Jahren 2004 und 2005 im Auslandseinsatz, um in Afghanistan die Infrastruktur der örtlichen Polizei aufzubauen. Damals lernten sich Noori und der deutsche Beamte kennen. Der Dolmetscher attestiert dem Magdeburger noch heute: "Er war sehr fleißig und hat viel für die Infrastruktur der afghanischen Polizei getan."

Nach dem Auslandseinsatz hielt der Polizist weiterhin Kontakt mit den Kollegen in Deutschland. Von ihnen erfuhr er auch, dass Noori einer von bisher 31 aus Afghanistan ausgereisten Ortskräften ist. Gemeinsam mit einem niedersächsischen Beamten bereitete der Magdeburger die Ankunft der Familie vor.

"Wir nahmen gleich Kontakt mit den Sozialarbeitern auf und organisierten Inventar für die Familie", erklärt der Polizist. Die Hilfsbereitschaft sei unter den Kollegen enorm gewesen. So stellten diese gleich sieben Couchgarnituren zur Verfügung, obwohl nur eine gebraucht wurde. "Wir bräuchten eigentlich eher noch Kinderwagen und Wäschetrockner", meint Vösterling.

Während "Nooris" Kinder in Sachsen-Anhalt zur Schule gehen und so schnell wie möglich auch Deutsch lernen möchten, sieht sich der Afghane nach einer Arbeitsstelle als Übersetzer um. Schließlich kann er neben Deutsch als Fremdsprache auch perfekt Farsi (persisch) und Paschtu.

Aktuell arbeiten für die Bundesrepublik noch 948 Ortskräfte in Afghanistan. 772 für das Verteidigungsministerium, 120 für das Bundesinnenministerium und 56 für das Auswärtige Amt. Darüber hinaus werden über das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit weitere 2000 lokale Mitarbeiter beschäftigt, für die bei Bedarf die Aufnahmeregelung analog angewandt wird. "Das gilt auch für die Arbeitnehmer der politischen Stiftungen in Afghanistan", so Neymann.