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Magdeburger Oberstaatsanwältin berichtet von immer größerer Brutalität bei jugendlichen Straftätern. Jugendkriminalität: Tritte ins Gesicht

Von Bernd Kaufholz 28.12.2011, 04:22

Oberstaatsanwältin Silvia Niemann, die seit zwölf Jahren in Magdeburg sowie dem Börde- und Salzlandkreis für Straftaten Jugendlicher zuständig ist, berichtet von wachsender Brutalität jugendlicher Täter: "Sie treten ins Gesicht und springen auf Köpfe."

Magdeburg l Immer wieder werde wie ein Schild vorangetragen, dass die Kriminalität im Jugendbereich zurückgehe, sagt Oberstaatsanwältin Silvia Niemann. "Ganz davon abgesehen, dass absolute Zahlen, ohne die Überalterung und Abwanderung der Bevölkerung Sachsen-Anhalts zu berücksichtigen, kaum etwas aussagt, wird dabei gerne übersehen, dass junge Täter bei ihren Straftaten immer brutaler vorgehen."

Zum Beispiel sei es bei Raubdelikten heute so, dass Jugendliche gleich zum Messer griffen, um ihrer Forderung nach Geld, Handy oder Markenbekleidung Nachdruck zu verleihen.

Da werde am Boden Liegenden ins Gesicht getreten oder auf den Kopf gesprungen. "Man hat das Gefühl, das Normen und Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens immer weniger zählen", sagt die 48-Jährige.

Ein "Werteverfall" mache sich breit, der nur schwer gestoppt werden könne, ist die Erfahrung der Oberstaatsanwältin, die sie als Anklagevertreterin in vielen Prozessen gesammelt hat. Und sie nennt ein Beispiel, was, wie sie selbst sagt "nur eine Marginalie ist", die jedoch bezeichnend für die Einstellung vieler Jugendlicher sei: "Wer von ihnen steht heute noch in Bus oder Bahn auf und bietet einem alten, gebrechlichen Menschen seinen Platz an?"

Bettina Götze ist Kriminologin und schreibt gegenwärtig an ihrer Doktorarbeit. Die 32-Jährige, die sich zudem in Psychologie und Soziologie auskennt, hat ähnliche Erfahrungen wie Niemann gemacht. Sie zählt Faktoren für Jugendkriminalität auf, die je nach der Stärke wie sie auf die Heranwachsenden einwirken, auch zur "Verrohung" der jungen Straftäter führen können: "Niedriges Bildungsniveau, belastete Familienverhältnisse, kritische Milieus, desorganisierte Stadtviertel, geringes Selbstwertgefühl, Sozialisationsmängel, Perspektivlosigkeit."

Jugendkriminalität trete häufig innerhalb von Banden auf. Götze: "Das hat etwas mit Identitätssuche zu tun. Oft sind Jugendliche nicht in der Lage, ihre Identität auf konventionellem Weg zu finden."

Oberstaatsanwältin Niemann hakt beim Thema "Jugendbanden" ein. Es seien häufig Mädchen, die solche Gruppierungen mit "harter Hand" führten und oft noch brutaler vorgingen, als die männlichen Bandenmitglieder. Sie nennt als Beispiel eine 20 Jahre alte Magdeburgerin, die sich bereits mehrfach wegen Gewaltdelikten verantworten musste.

Sie gehöre zu den Jugendlichen/Heranwachsenden, die es nicht dabei beließen, ihr Gegenüber mit der Faust niederzuschlagen. Vielmehr trete sie die am Boden Liegenden weiter ins Gesicht.

Götze nennt es einen "Trend des Anstiegs femininer Devianz (abweichendes Verhalten, d. Rd.)" Die Frauenkriminalität sei in den vergangenen 30 Jahre angestiegen, was sich auch innerhalb der Jugendkriminalität dokumentiere. "Allerdinges verstößt die Verbindung von Weiblichkeit und Kriminalität immer noch gegen das bekannte Rollenbild und wird von der Gesellschaft gern übersehen."

Die Zeiten der leisen Giftmorde, wie sie aus der Geschichte bekannt sind, seien jedoch längst vorbei. "Die Anwendung von brutaler Gewalt stellt inzwischen auch für Mädchen und Frauen ein probates Mittel dar."

"Wir als Staatsanwaltschaft, sind der Schwanz der Gesellschaft. Wir müssen uns um die Fälle kümmern, wenn es fast zu spät ist", sagt Niemann.

Dabei seien es die Eltern, die eine Verpflichtung hätten, ihre Kinder zu erziehen. "Allerdings delegieren eine Reihe von Eltern die Schuld daran, dass Kinder und Jugendliche kriminell werden, an die Gesellschaft - Kindergarten, Schule, Ausbildungsstellen."

Das sei "nicht zu tolerieren". Die Werteerziehung fange in der Familie an. "Dort müssen den Heranwachsenden Normen und Regeln beigebracht und kontrolliert werden, dass diese auch eingehalten werden."

Die Verwunderung darüber, wenn der eigene Sohn, die eigene Tochter, Straftaten begehen, sei groß, so die Jugendstaatsanwältin. "Doch oft ist es so, dass die Eltern den Grundstein für die Brutalität ihrer Kinder selbst innerhalb der Familie legen."

Allerdings müsse sich auch die Politik fragen, ob es zuletzt nicht mehr koste, wenn der Rotstift mehr und mehr an Freizeitprojekten angesetzt werde.

Und da trifft sie genau bei einem Streetworker aus Magdeburg ins Schwarze. Der junge Mann, der seinen Namen nicht nennen möchte, spricht sich auch vehement gegen die Rotstiftpolitik aus.

"Ob es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Wegbrechen von Freizeitangeboten und der wachsenden Brutalität gibt, müssten sich andere Gedanken machen. Für mich steht das fest."

Er legt den Finger in die Wunde: "Es wächst die zweite Hartz-IV-Generation heran. Das Beispiel der Eltern vor Augen - keinen strukturierten Tagesablauf, möglicherweise Alkohol und häusliche Gewalt - ist es für viele Kinder und Jugendliche nur sehr schwer möglich, etwas anderes nachzuleben, als die Eltern vorleben."

Oberstaatsanwältin Niemann sagt: "Und wenn sich dann noch Eltern in der Schule beschweren, weil ihre Kinder ,zu streng angefasst\' werden, ist es kein Wunder, wenn sich auch Lehrer zurücknehmen."

"Die Kriminalitätsstatistik ist nicht das Nonplusultra

Kriminologin Götze wendet sich dann einer Frage zu, die seit Jahren konträr diskutiert wird: Sind die Jugendstrafen so hoch, dass sie abschrecken? Oder sollte die Höchststrafe von zehn auf 15 Jahre angehoben werden? "Ich gehöre zu denjenigen, die meinen, dass man ernsthaft über höhere Jugendstrafen nachdenken sollte", sagt die Frau, die in der Vergangenheit den Mordkommissionen in Dessau-Roßlau und Magdeburg wichtige Tipps geben konnte.

Allerdings sei auch sie sich klar darüber, dass höhere Strafen nicht automatisch Abschreckung bedeutet.

Und wie auch Oberstaatsanwältin Niemann warnt sie davor, "nicht zu statistikhörig zu sein". "Probleme der Kriminalitätsbemessung führen oft zu einer Verzerrung der offiziellen Registrierung von Kriminalität."

Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik sei nicht das Nonplusultra. "Sie verwischt ein gewisses Maß an Fehlerquellen. Devianz (abweichendes Verhalten, d. Red.) wird in Statistiken nicht wirklichkeitsgetreu erfasst."

Sie habe den Eindruck, dass die "Kriminellen" immer jünger werden. Der Höhepunkt der Kriminalitätsbelastung sei in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen zu finden.