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Integration Grammatik und Geborgenheit: Ältere Ukrainer lernen Deutsch

Ein fremdes Land, eine neue Sprache – und der Wunsch, anzukommen. In Friedrichshagen lernen ältere Ukrainer Deutsch. Für sie ist das mehr als Vokabeln und Grammatik.

Von Anja Sokolow, dpa 01.12.2025, 05:00
Oksana Hryb unterrichtet ehrenamtlich Deutsch. In der Ukraine war sie Englischlehrerin.
Oksana Hryb unterrichtet ehrenamtlich Deutsch. In der Ukraine war sie Englischlehrerin. Anja Sokolow/dpa-Zentralbild/dpa

Berlin - Ein Arztbesuch, ein Einkauf oder ein Gespräch mit der Enkelin – Dinge, die für viele selbstverständlich sind, können zur großen Hürde werden, wenn man die Sprache nicht spricht. In Berlin-Friedrichshagen hilft die ukrainische Lehrerin Oksana Hryb vor allem älteren Landsleuten, diese Hürde zu überwinden. Sie sind vor dem Krieg geflohen und versuchen nun, in einem fremden Land Fuß zu fassen. Ukrainer bilden laut der Migrationsbeauftragten in Berlin mit fast 50.000 Menschen die größte Gruppe unter den Geflüchteten.

Lehrerin aus Odessa unterrichtet ehrenamtlich

„Es sitzen Menschen in meinem Kurs, die die Integrationskurse nicht geschafft haben, weil alles zu schnell ging. Andere haben erst gar keinen Anspruch auf einen Kurs. Und dann gibt es auch jüngere, die ihr Deutsch verbessern wollen“, erklärt die 41-Jährige, die seit 2022 mit ihren beiden Kindern in Berlin lebt und zuvor als Englisch-Lehrerin in Odessa arbeitete. Sie selbst spricht inzwischen fließend Deutsch und gibt ihr Wissen ehrenamtlich weiter.

„Ich sehe einen Hund“, „Frau Müller hat ein Auto“: Nacheinander lesen die Schüler – zum Großteil Senioren – Sätze aus ihren Arbeitsblättern vor und üben den Akkusativ. Die kleine Gruppe von etwa einem Dutzend Frauen und Männern sitzt wie jeden Dienstag in einem Raum im Kiez-Klub Vital an einem großen Tisch zusammen. Zweimal pro Woche treffen sie sich hier, um gemeinsam zu lernen.

Deutsch lernen, um mit der Enkelin zu spielen

„Ich möchte einfach in dem Land, das uns aufgenommen hat, zurechtkommen, möchte Radio hören, fernsehen oder Zeitung lesen können. Ich möchte auch gern mit meiner fast dreijährigen Enkelin oder meinem Nachbarn sprechen können“, sagt der 62-jährige Volodymyr Jushin. Seine Enkelin sei hier geboren und spreche ihre ersten Wörter auf Deutsch. Sein Nachbar melde sich zwar öfter, aber Gespräche seien sehr kompliziert. Auch ein Arztbesuch sei sehr schwierig. „Mein Arzt muss ein Übersetzungsprogramm auf seinem Computer benutzen“, erzählt er.

„Auch das Einkaufen oder Bus- und Bahnfahren sind ohne gute Deutschkenntnisse schwierig“, ergänzt Olena Chyzhevska. Sie ist die Mutter von Oksana Hryb und drückt ebenfalls zweimal die Woche freiwillig die Schulbank. „Leider haben wir gar keinen Kontakt zu Deutschen. Für Sprachcafés, in denen man mit ihnen sprechen könnte, reichen unsere Kenntnisse leider noch nicht aus“, bedauert sie.

Idee zum Kurs hatte die Mutter der Lehrerin

Olena war es, die die Idee für den Kurs hatte. „Wir haben uns bei einer Veranstaltung kennengelernt“, erinnert sich Daria Morozova. Sie ist Koordinatorin des Projekts „SAFE – Ukrainehilfe in Köpenick“. „Olena sagte mir, wie dringend sie und andere einen Kurs brauchen – und dass sie schon eine Lehrerin kennt: ihre Tochter“, erzählt Morozova. Das Projekt „SAFE“ der Stephanus-Stiftung bietet Unterstützung und ein sicheres Umfeld für geflüchtete Familien aus der Ukraine, etwa mit psychosozialer Unterstützung, Beratung und Gruppenangeboten für Kinder und Erwachsene. Der Deutschkurs gehört nun ebenfalls zum Angebot.

Für Volodymyr und die anderen ist der Kurs mehr als nur Vokabeln und Grammatik: „Wir fühlen uns hier wie eine Familie. Oksana ist mehr als eine Deutschlehrerin. Sie ist immer sehr freundlich und hilft uns auch bei anderen Fragen und Problemen, zum Beispiel in bürokratischen Dingen“, betont er.

Niemand vergisst die Hausaufgaben

Für ihre Schüler sei das Deutschlernen zwar nicht einfach, vor allem wegen der Grammatik. „Im Deutschen gibt es auch sehr lange Wörter, die schwer zu lernen sind“, erzählt die Deutschlehrerin. Doch alle seien hoch motiviert: „Die Senioren machen immer ihre Hausaufgaben. Es passiert höchstens im Krankheitsfall, dass jemand keine machen kann“, berichtet sie.

Sie selbst träume davon, als Lehrerin wieder an einer Schule zu unterrichten. „Dazu muss ich aber noch einmal an die Universität“, sagt Oksana Hryb, die gerade alle Unterlagen für die Bewerbung zusammenstellt. „Das ist auch gar nicht so einfach“, erzählt sie. Und ihre Sprachschüler? „Die wollen auf keinen Fall, dass ich sie verlasse“, sagt die ehrenamtliche Deutschlehrerin. Ihre Zukunft sieht sie auf jeden Fall in Berlin. „Vor allem meine Tochter kann sich kaum noch an die Ukraine erinnern und all meine Freunde leben inzwischen im Ausland“, sagt die alleinerziehende Mutter eines 14-jährigen Sohnes und einer achtjährigen Tochter.

Zwischen 2022 und 2024 haben in Berlin insgesamt 22.560 Personen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit einen Integrationskurs begonnen: 10.645 im Jahr 2022, 7.629 im Jahr 2023 und 4.286 im Jahr 2024, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mitteilte. Die Kurse schließen demnach mit dem bundeseinheitlichen „Deutsch-Test für Zuwanderer“ (DTZ) ab, der kein klassisches Bestehen oder Durchfallen kennt, sondern das erreichte Sprachniveau abbildet. Als „erfolgreich“ gilt formal, wer das Niveau B1 erreicht und zusätzlich den Test „Leben in Deutschland“ besteht.