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Plädoyers rücken näher Experte im Halle-Prozess: Synagoge unzureichend geschützt

Auf den letzten Metern der Beweisaufnahme kommt das Verfahren um den Anschlag in Halle durch zahlreiche Anträge ins Stocken. Zuvor warnt ein Experte vor weit verbreitetem Judenhass in Deutschland - und lobt das Gericht.

17.11.2020, 17:25
Ronny Hartmann
Ronny Hartmann dpa-Zentralbild

Magdeburg (dpa) - Im Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag in Halle hat ein Experte für Antisemitismus dem Staat vorgeworfen, die angegriffene Synagoge nicht ausreichend geschützt zu haben.

"Aus unserer Sicht hätten die Behörden den unzureichenden Schutz kennen müssen", sagte der Geschäftsführer des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias), Benjamin Steinitz, am Dienstag vor dem Oberlandesgericht Naumburg.

Polizei, Landeskriminalamt (LKA) und Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) hatten nach der Tat im Oktober 2019 mehrfach gesagt, dass sie keinerlei Hinweise auf den Anschlag oder auf eine veränderte Sicherheitslage der Synagoge gehabt hätten.

Laut Steinitz weichen die Sicherheitseinschätzungen der Behörden für jüdische Einrichtungen oft von denen der betroffenen Gemeinden ab. Für die Jüdinnen und Juden in Deutschland sei der Anschlag nicht so überraschend gewesen, sagte Steinitz und zählte zahlreiche antisemitische Anschläge seit 1945 in Deutschland auf. Der Antisemitismus sei nie aus Deutschland verschwunden, auch nicht nach dem Holocaust.

Am 9. Oktober 2019 hatte ein Terrorist versucht, 51 Menschen zu töten, die in der Synagoge von Halle den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur feierten. Er scheiterte an der massiven Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, später noch einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss und verletzte weitere Menschen. Der 28-jährige Deutsche Stephan Balliet hat die Taten gestanden und mit antisemitischen, rassistischen Verschwörungstheorien begründet. Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess, der aus Platzgründen in Magdeburg stattfindet.

Steinitz' Verein Rias untersucht und dokumentiert in Deutschland antisemitische Angriffe und arbeitet dabei mit jüdischen Einrichtungen, Beratungsstellen und den Landeskriminalämtern zusammen. Regelmäßig befragt der Verein Jüdinnen und Juden zum jüdischen Leben in Deutschland. Das zeige immer wieder, wie viele Menschen in Deutschland Opfer antisemitischer Angriffe sind. Die Mehrheit der Juden erlebe solche Attacken alltäglich, die wenigsten erstatteten aber eine Anzeige, sagte Steinitz.

In Befragungen unter Juden in Deutschland hätten 79 Prozent angegeben, den schwersten Fall antisemitischer Angriffe, den sie erlebt hätten, nicht zur Anzeige gebracht zu haben. Juden müssten in Deutschland ständig abwägen, ob sie ihre jüdische Identität trotz der Gefahren durch Antisemiten sichtbar ausleben. Viele würden ihren Glauben daher nur im Privaten praktizieren, sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen oder sogar eine Auswanderung erwägen, sagte Steinitz.

Der Politologe lobte, dass das Gericht im Verfahren die Überlebenden aus der Synagoge so ausführlich zu Wort kommen ließ. Das habe den Plan des Angeklagten, seine Botschaften im Prozess zu transportieren, konterkariert und "erhebliche Solidarisierungsprozesse auch außerhalb des Gerichtssaals" angestoßen". Das habe den Betroffenen geholfen.

Nach der Befragung von Steinitz geriet der Prozess ins Stocken. Nach zahlreichen Anträgen von Verteidigung und Nebenklage unterbrach die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens die Sitzung am späten Nachmittag und verschob die letzten Beweisanträge auf Mittwoch. Sollte das Gericht einem Antrag der Verteidigung auf einen zusätzlichen Gutachter nicht folgen, könnten dann die Plädoyers beginnen.

© dpa-infocom, dpa:201117-99-357331/3