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Stammzell-Spender Nicos Vermächtnis

Heute vor 20 Jahren fand in Sachsen-Anhalt die bis heute weltweit größte Stammzell-Typisierungsaktion statt. Der Anlass war tragisch.

Von Dennis Lotzmann 17.12.2015, 00:01

Magdeburg l Eigentlich steht ein vierter Advent ganz im Zeichen der Weihnachtszeit. Adventsmärkte locken und zwischen Glühwein, Schmalzgebäck und Stollen wird nach Weihnachts- geschenken Ausschau gehalten. Eigentlich. Am 17. Dezember, dem vierten Advent des Jahres 1995, war das anders. Damals dominierte ein Thema die Vorweihnachtszeit im noch jungen Sachsen-Anhalt: Die Suche nach der alles entscheidenden Nadel im Heuhaufen, die Suche nach dem Lebensretter für den leukämiekranken Nico. Dessen tragisches Schicksal motivierte am 17. Dezember 1995 Tausende Sachsen-Anhalter.

Der 15-jährige Junge aus Magdeburg kämpfte damals verzweifelt und fast schon aussichtslos gegen den tückischen Blutkrebs. Im Herbst 1995 hatten die behandelnden Ärzte alle therapeutischen Möglichkeiten, die sie damals im Kampf gegen Leukämie hatten, ausgereizt. Allein die Transplantation gesunder Stammzellen in Form von Knochenmark konnte Nico jetzt noch helfen.

Doch die Suche in den Registern mit potenziellen Spendern blieb erfolglos. Es gab weltweit keinen genetischen Zwilling, der Nico eine neue Lebenschance hätte geben können. „Es war eine schier ausweglose Situation“, erinnert sich Professor Marcell Heim. „Die Chance wurde immer kleiner. Es war wie Sand, der unaufhaltsam durch die Finger rieselt – es wird immer weniger.“

In diesem Moment wandten sich Nicos völlig verzweifelte Angehörige an den Chef des Instituts für Transfusionsmedizin der Uniklinik Magdeburg: „Eines Abends stand die Tante vor der Tür – sie habe 50 Leute, die sich typisieren lassen wollen.“

Marcell Heim, 1993 von München an die Elbe gekommen, machte sich schlau. „Wenig später war klar, dass in den östlichen Bundesländern keine einzige Datei mit Knochenmarkspendern existierte.“ Oder anders betrachtet: Während in der Ex-BRD schon seit 1987 Freiwillige typisiert und Dateien aufgebaut wurden, war ein Viertel der Deutschen überhaupt nicht registriert. „Das“, erinnert sich der heute 65-Jährige, „war endgültig die Initialzündung“.

Der Uni-Professor sah darin eine doppelte Chance: „Es konnte ja sein, dass irgendwo in der Region rund um Magdeburg aufgrund uralter verwandtschaftlicher Beziehungen tatsächlich Nicos genetischer Zwilling lebt.“ Es war, darüber waren sich alle Beteiligten und auch Nico damals klar, jedoch nicht mehr als der berühmte Strohhalm. Es war aber zugleich die Chance, erstmals auch in einem östlichen Bundesland gezielt Knochenmarkspender zu typisieren und eine Datei aufzubauen.

Ein Gedanke, den der schwerkranke Nico ausdrücklich mitgetragen habe, wie Marcell Heim sich erinnert: „Was konnte ihm Besseres passieren, als mitzuhelfen, die größte Datei im Osten aufzubauen?“ Wie schwer dies sein würde und wie gering die Chancen für Nico waren, hatte sich Heim im Referenzlabor in Wien ausrechnen lassen: „Wir mussten 15 000 Menschen typisieren, um einen zu finden, der noch nicht im weltweiten Datenpool registriert war.“

Ein Gedanke, der nicht nur Heim elektrisierte, sondern viele Mitstreiter und Tausende Helfer. An jenem 17. Dezember 1995 war es so weit: Zwischen Arendsee und Zeitz kam es bei der „Aktion Nico“ zum Schulterschluss und einer einzigartigen Demonstration zwischenmenschlicher Hilfsbereitschaft.

Überall standen die Menschen Schlange, um Nico oder anderen Betroffenen zu helfen. THW, DRK und andere Organisationen halfen, landesweit zogen 26 Kliniken mit. Stündlich gab es Rückmeldungen nach Magdeburg. „Es war Wahnsinn, schon um 13 Uhr hatten wir 15 000 Proben“, sagt Heim.

Er stand in diesen Stunden vor einer Entscheidung, die auch privat Folgen haben würde: Die Aktion stoppen und die Wartenden verärgern oder weitermachen? „Wir haben bis 16 Uhr weitergemacht.“ Und da waren es landesweit schon 21 000 gefüllte Röhrchen mit Blutproben, die nun auf die Typisierung warteten.

Das Zeitfenster lag damals bei maximal 48 Stunden. „Wir haben die Proben mit Kurieren nicht nur in alle deutschen Uni-Labors geschickt, sondern in ganz Europa verteilt – Amsterdam, London, Zürich.“

Ab 21. Dezember 1995 spuckten dann die Faxgeräte in Magdeburg seitenlange Ergebnislisten mit den getesteten Grobmerkmalen aus. Die galt es nun zu erfassen. „Die Telekom hat uns damals sechs Computer geliehen. 50 bis 60 Helfer waren bis Silvester beschäftigt, die Rechner mit den Daten zu füttern. Da war nix mit Weihnachten.“

Die Erfassung war die eine Sache, die Rechnungen, die später aus ganz Europa eintrudelten, die andere. Pro Typisierung waren rund 100 Mark Laborkosten zu veranschlagen. „Wir hatten insgesamt 2,2 Millionen Mark ausgegeben, drei Monate nach der Aktion aber nur 900 000 Mark auf dem Konto“, weiß Heim noch heute nur zu gut. Das 1,3-Millionen-Mark-Defizit war schließlich sein Problem. Er hatte die Typisierungen ja in Auftrag gegeben, er haftete nun privat.

„Während viele Labors kulant waren und uns Zeit ließen, drohten andere mit gerichtlichen Schritten.“ Und auch die Leitung der Uni-Klinik habe sich mit Nachdruck dafür interessiert, wie ihr Institutsleiter das Problem zu lösen gedenke.

Allein: „Ich konnte es nicht. Ich stand damals mit dem Rücken zur Wand und eigentlich vor der Privatinsolvenz.“ Der damals 45-Jährige ging bei Firmen Klinken putzen – viele feierten gerade ihr fünfjähriges Bestehen und sammelten für den Anfang 1996 gegründeten Verein „Aktion Knochenmarkspende Sachsen-Anhalt“. Dann ging der Uni-Professor in Magdeburg „betteln“, wie eine Boulevard-Zeitung titelte. Wahrscheinlich war es nur der grenzenlose Optimismus des zwölf Jahre alten Sohns, der Heim damals noch Kraft gab: „Wenn man eine gute Sache macht, geht man nicht unter.“

Der Sohnemann sollte Recht behalten. Heim ging nicht unter. Am Ende wurde José Carreras auf ihn aufmerksam. Der Star-Tenor, Jahre zuvor selbst an Leukämie erkrankt und geheilt, lud Heim ein. „Ich konnte ihm eine gute Stunde auf Französisch unsere Lage erläutern.“ Carreras sei begeistert gewesen – 21 000 Menschen, so viele seien in Spanien binnen sechs Jahren typisiert worden. Allein: Es sollte noch Monate dauern bis zum rettenden Anruf.

Dann endlich war es so weit: Nachdem Heim Ende 1996 in der Carreras-Spenden-Gala war, wurde er wenig später nach München eingeladen. „Doch wie fliegen ohne Geld?“ Es wurde arrangiert. Vor Ort wurde Heim ein Scheck über 250 000 Mark überreicht – medienwirksam und wenig später wiederholt in Wien.

Mit jener Carreras-Story habe die Sache Rückenwind bekommen. Fünf Monate später waren die Schulden getilgt und Heim konnte endlich wieder durchatmen.

Zwei Jahrzehnte später steht viel auf der Habenseite. Zwar konnte Nico nicht mehr geholfen werden. Er erlitt noch während der Typisierungsaktion einen schweren Rückfall. Die allerletzte Chance, eine Transplantation von halbidentischen Stammzellen seiner Mutter, blieb erfolglos. Nico starb im Frühjahr 1996.

Seither wuchs die damals entstandene Datei aber unaufhörlich weiter: Heute sind 37 244 potenzielle Spender in Magdeburg registriert. 352 wurden seither zu Lebensrettern irgendwo auf der Welt. „Wir haben Spender in 29 Länder auf allen Kontinenten vermittelt“, berichtet Beatrice Weiß von der Spenderdatei.

Marcell Heim wurde im Herbst 1998 für diese Leistung und das persönliche Risiko, das er und seine Familie damit eingegangen waren, auf Vorschlag der Landesregierung mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. „Die Verleihung im Berliner Schloss Bellevue war ein sehr erhebender Augenblick“, erinnert sich der 65-Jährige. Einer, der zugleich motivierte. Bis heute ist Heim zusammen mit vielen Helfern und 38 Mitgliedern im Verein dabei, neue potenzielle Lebensretter zu typisieren. „Wenn man bedenkt, dass pro Jahr etwa 1000 altersbedingt ausscheiden, wird klar, was das bedeutet.“ Unterstützt wird der engagierte Uni-Professor dabei auch von Nicos Eltern. Sie traten dem Verein einige Monate nach Nicos Tod bei.

Marcell Heim ist stolz auf das Erreichte, bleibt aber die Bescheidenheit in Person. Dabei haben er und seine Mitstreiter nicht nur vielen Menschen eine zweite Lebenschance gegeben, sondern auch Chancen vor Ort geschaffen. Beim Knochenmarkspenderregister in Magdeburg sind Jobs entstanden: Neben drei Dokumentaristinnen und einer Medizinisch-Technischen Assistentin arbeitet heute auch ein Arzt hier.

Und: Was würde Nico heute wohl dazu sagen? „Er wäre ganz sicher sehr zufrieden“, ist Heim überzeugt. Auch weil diese Aktion eine Initialzündung für viele östliche Bundesländer gewesen sei, die anschließend nachzogen. Und es sei keine Frage: „Was damals passierte und bis heute entstand, ist sein Vermächtnis.“ Die wahren Helden jedoch waren die Menschen dahinter – die Helfer, die Typisierten und vor allem Marcell Heim und seine Familie.