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Forschung Weihnachten auf dem Mars

Wissenschaftlerin Christiane Heinicke aus Bitterfeld lebt seit vier Monaten so, als wäre sie auf dem Mars - in einer Station auf Hawaii.

Von Kathrin Wöhler 27.12.2015, 00:01

Bitterfeld l Lavagestein, so weit das Auge reicht. Mittendrin eine weiße Kuppel. Sechs Wissenschaftler leben hier auf Hawaii, eingesperrt in eine Forschungsstation. Ohne Echtzeit-Kontakt zum Rest der Menschheit. 15 Schritte geradeaus, mehr geht nicht, und nach draußen dürfen die Männer und Frauen nur im Raumanzug. Wasser ist knapp und Obst gefriergetrocknet. Christiane Heinicke aus Bitterfeld lebt seit vier Monaten unter diesen Bedingungen. Als wissenschaftliche Leiterin gehört sie zum Team der Marsmission „HI-SEAS IV“ (Hawaii Space Exploration Analog and Simulation), die ein Jahr lang einen Aufenthalt auf dem Mars simuliert. Sie wird von der University of Hawaii betrieben und von der Weltraumbehörde Nasa bezahlt.

Drei Simulationen gab es bereits, aber noch nie blieben Teilnehmer ein ganzes Jahr im Habitat. So nennen die Wissenschaftler die Station, die auf einem Vulkan in 2500 Metern Höhe steht, weitab von Zivilisation und Vegetation. Das rötliche Gestein ähnelt der Marsoberfläche.

„Ein Jahr lang werde ich keine Sonnenstrahlen und keinen Wind auf meiner Haut fühlen“, schrieb Christiane Heinicke vor Beginn der Mission in ihren Internet-Blog. „Keine frischen Lebensmittel, kein Telefon. Ich kann nicht verreisen, ich kann nicht schwimmen gehen, und meine Familie bekommt mich nur in aufgezeichneten Videonachrichten zu Gesicht.“ Und doch war da kein Bedauern – im Gegenteil. Die 30-Jährige ist Forscherin mit Leib und Seele.

Nach ihrem Studium der Technischen Physik in Ilmenau ging sie für ihren Master-Abschluss in Geophysik nach Uppsala in Schweden. Sie machte ihren Doktor und erforschte vor ihrem Einzug in die Mars-Station in Finnland das Meereis.

Vier Nationen leben seit August auf 100 Quadratmetern: Ein Mann und zwei Frauen aus den USA, ein Franzose, ein Engländer und eine Deutsche. „Wir arbeiten an einem der größten Ziele, die die Menschheit seit der Mondlandung vor sich hat“, beschreibt Christiane Heinicke die Mission. Dabei spielen weniger technische Details eine Rolle, als vielmehr die Frage: Wie halten es Menschen auf engstem Raum über Monate und Jahre miteinander aus, während sie zum Mars fliegen – und zurück?

Der Faktor Mensch werde zumeist unterschätzt, erläutert die Forscherin. „Der rationalste Astro­naut kann in einen Streit verwickelt werden. Was dann?“ Welche Gefühlswelt müssen die Marsreisenden also mitbringen? Wie kann man sie so auswählen und trainieren, dass sie die enormen psychischen Belastungen durch Isolation und Lebensgefahr aushalten?

Natürlich, entgegnen Kritiker, gebe es im HI-SEAS-Projekt keine Gefahr für Leib und Leben. Jeder könne abbrechen und einfach aus der Tür spazieren. Aber das käme hier niemandem in den Kopf, schreibt Heinicke in ihren Mails. Jeder nehme die Simulation extrem ernst. Sie würde sofort hier rufen, wenn eine Crew für den Flug zum Mars zusammengestellt wird.

Jeder hat ein spezielles Forschungsprojekt. Christiane Heinicke versucht, Wasser zu gewinnen – eine existenzielle Aufgabe während einer Marsmission. Es gibt zwar Eis auf dem Planeten, die Station stünde aber in sehr sonnigen Regionen – um Solarenergie zu gewinnen. Heinicke testet eine Art Gewächshaus, mit der sie Kondenswasser auffängt, das aus dem Lavagestein verdunstet. Marsboden enthält ähnliche Mengen an Wasser wie das Lavagestein.

Dazu verlässt die Wissenschaftlerin alle zwei bis drei Tage das Habitat. Die Außeneinsätze, genannt Eva (extra-vehicular activity), bieten einen großen Vorteil: Man kann sich bewegen. Ein Spaziergang ist es dennoch nicht. „Die Einsätze sind zeitaufwändig, allein die Vor- und Nachbereitung dauert etwa vier Stunden“, schreibt Heinicke. Zwei Mann müssen ihr in den schweren Anzug helfen. Er schränkt alle Bewegungen und das Sichtfeld ein, ebenso wie der schwere Rucksack mit dem Lebenserhaltungssystem. Wer in die Hocke geht, kann sich nur mit Hilfe des Eva-Partners wieder aufrichten.

Bei einem Außeneinsatz fiel im September ihre Luftzufuhr aus. „Normalerweise ist man im Helm von einem konstanten Brummen und Sirren umgeben, jetzt aber war es völlig still.“ Sie wusste: Ihr blieb nicht viel Zeit. Christiane Heinicke schleppte sich zum Habitat, sank in der Luftschleuse nieder und wartete auf die Dekompression. „Mein Helm war beschlagen, ich rang nach Luft.“ Sie meistert die brenzlige Situation, die auch zeigt: Leicht macht es sich hier niemand.

Weil es in erster Linie darum geht, wie sich die Gruppendynamik während der Isolation entwickelt, sind die Forscher von Sensoren umgeben. Kameras zeichnen das Geschehen aus Küche und Essbereich auf – wenn auch ohne Ton. „Wir nehmen sie schon gar nicht mehr wahr“, relativiert Heinicke. Am Handgelenk tragen die Marsianer Fitnessarmbänder, die ihre Vitalfunktionen überwachen. Sensoren um den Hals registrieren die Lautstärke der Stimme und die relative Position zu den anderen Teilnehmern.

Zusätzlich füllt jeder zwei bis sechs Fragebögen pro Tag aus. Dabei geht es um die eigene Wahrnehmung, die der anderen und die Zusammenarbeit mit Mission Control, dem Team auf der Erde. „Wir sagen vielleicht: Wir sind kooperativ. Aber sind wir auch noch so kooperativ wie letzte Woche?“

Die Anfangseuphorie weicht dem Alltag. Forschungsarbeiten, Sport, Medienanfragen, Küchendienste, selbst auferlegte Lernaufgaben (zum Beispiel Russisch, den Morsecode, Mundharmonika oder Backen) füllen die Tage. Was nervt, tritt überdeutlich hervor. Bis auf die winzigen Zimmer, fensterlos mit Bett und Schrank, gibt es keine Privatsphäre.

„Ich versuche, mich auf die Stärken zu konzentrieren“, schreibt Heinicke diplomatisch. Respekt und eine positive Einstellung seien die Schlüssel, um solche Missionen zu überstehen. Wenn Cyprien seine Tassen stehen lässt und Sheyna nicht genau genug dokumentiert, nimmt sie das durchaus wahr. „Aber auf Schwächen herumzureiten führt nur zur Frustration.“

In ihrem Blog beschreibt sie ihre Kollegen mit viel Humor – was diese gern zurückgeben. Sie nennen sie „Cookies“ (dt. Kekse), „weil sie alles verschlingt, was irgendwie nach Keks aussieht“, beschreibt Tristan Bassingthwaighte. Die Bitterfelderin fällt auf, weil sie viel schläft, „manchmal mehr als 30 Stunden am Tag, und gelegentlich hält sie noch ein Nickerchen“, scherzt ihr Kollege. Außerdem kitzele sie Leute aus und drehe ihnen das Wasser ab, um niedrige Wasserstände zu simulieren.

Auch im HI-SEAS-Projekt wird Weihnachten gefeiert. Natürlich unter extraterrestrischen Bedingungen. Sogar einen kleinen Baum können die Forscher aufstellen. Aus der opulenten Weihnachtsgans wird allerdings nichts. Dazu muss man sich vor Augen führen, wovon die Astronauten leben: Fleisch, Obst und Gemüse liegen nur kleingeschnitten und getrocknet vor. „Am meisten vermisse ich frische Tomaten.“ Alle zwei Monate kommt ein „Versorgungsschiff“ und bringt Nachschub, auch Post, persönliche Briefe und Ausrüstung. Das Essen schleusen „Roboter“ ohne Kontakt zu den Bewohnern ein. Das letzte Schiff kam Ende November.

Brot und Kuchen backen die Forscher selbst. Weil frühere Experimente gezeigt haben, wie sehr das gemeinsame Kochen die Atmosphäre entspannt und Bindungen festigt, gehen Experten inzwischen davon aus, dass in einer Marsstation ebenfalls gekocht würde. Seit Beginn der Mission testen die Teilnehmer ihre Kochkünste. Aufläufe, Sushi, Crepes und Fleischtöpfe standen schon auf dem Speiseplan. Allerdings nicht, wenn Christiane Heinicke Dienst hat. „Bei mir gibt’s mittags meist eine Suppe, die aus Zutaten zusammengewürfelt wird, die mir gerade unterkommen.“ Kochen sei nicht ihr Ding. „Ich versuche, der Küche so fern wie möglich zu bleiben.“

Zum Glück gibt es genug Hobbyköche, sodass auch Weihnachten geschlemmt wird. Gefeiert wird auf amerikanische Art, beschreibt Heinicke die Pläne des Teams. „Wir gehen am Abend des 24. spät schlafen und überreichen uns die Geschenke am Morgen des 25.“

Tatsächlich hat die Forscherin schon vor ihrem Einzug in das Habitat an Geschenke gedacht. Sie will einige der Teller mit persönlichen Motiven bemalen. „Die Porzellanstifte dafür habe ich mitgebracht.“ Wenn die Familien und Freunde Geschenke bis zum 15. Oktober – das war der Stichtag für das Versorgungsschiff – nach Hawaii gesendet haben, werden die Pakete unter dem Baum liegen. Vor allzu großem Heimweh fürchtet sich Heinicke nicht: Es sei nicht das erste Fest ohne Familie.

Und doch weiß sie schon genau, welchen Wunsch sie am Tag ihrer Rückkehr zur Erde aussprechen wird: Mutters unübertroffene Quarkkeulchen.