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Tschernobyl In der DDR blieben die Regale voll

Vor 30 Jahren ereignete sich die größte atomare Katastrophe in Europa. Die radioaktive Wolke zog auch bis in den Bezirk Magdeburg.

Von Jens Schmidt 26.04.2016, 01:01

Magdeburg l Am 30. April 1986 fanden die Leser der Volksstimme auf Seite eins eine kleine Nachricht. Überschrift: „Im KKW Tschernobyl ist die Strahlung unter Kontrolle“.

Tschernobyl? Strahlung? Die DDR-Presse setzte wieder mal voraus, dass die Leser das Wesentliche schon im Westfernsehen erfahren hatten. Die Nachricht schloss mit dem Satz: „Nach der TASS-Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl (Ukraine) wurden keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheits- gefährdung hervorrufen können.“

Vier Tage zuvor, am 26. April 1986, war gerade ein Kernreaktor in die Luft geflogen. Die Katastrophe passierte - Ironie der Geschichte - ausgerechnet während einer Havarie-Übung. Bedienfehler und bauartbedingte Schwächen führten zum großen Knall. Die Explosion wuchtete den 1000 Tonnen schweren Schutzdeckel in Block vier in die Höhe, das Dach das Kraftwerks zerflog. Eine atomare Wolke zog über Europa.

Die amtlichen Beschwichtigungsnachrichten ärgerten viele im Osten, zumal sich im Westfernsehen Fragen, Ratschläge und Warnungen überschlugen. Bereits am 28. April hatte etwa das ZDF-heute-Journal ausführlich berichtet. Der Unmut der DDR-Bürger ging an den Genossen der Staatssicherheit nicht vorbei. In einem Lagebericht schrieb der Stasi-Kreischef Burg im Mai 1986: „Bemängelt wird, dass die BRD-Medien zuerst über die Havarie berichteten. Es wird von einem Großteil der Bevölkerung geäußert, dass das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung in der DDR der Bevölkerung verheimlicht bzw. verniedlicht wird.“

Da die meisten der Tagesschau ohnehin mehr vertrauten als der DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera, beherzigten viele Ostdeutsche die Ratschäge aus dem Westen, in den ersten Maitagen vorsichtshalber auf Milch und Gemüse zu verzichten. Nun blieben auch in den Geschäften des Bezirks Magdeburg die Regale voll – das war neu. „Reichten die bisher gelieferten Mengen Trinkvollmilch kaum zur lückenhaften Deckung des Bedarfs aus, so werden in der Kaufhalle Wanzleben täglich 320 Beutel Trinkvollmilch nicht umgesetzt“ vermerkt die Bezirksbehörde der Polizei. Und: „Kopfsalat wird, obwohl schon preisgesenkt, von den Kunden nicht gekauft.“ Auch eilig angebrachte Schilder mit „Treibhaussalat“ halfen nicht.

Die Stasi-Lageberichte aus anderen Kreisen zeichnen ein ähnliches Bild: Eltern meldeten ihre Kinder von der Schulmilchversorgung ab. Schüler der POS Grabow gossen ihre Trinkmilch weg. In der Schuhfabrik Burg lehnten Mitarbeiter eine Auszeichnungsreise in die Sowjetunion ab. Einige Spargelbauern im Kreis Wolmirstedt vernichteten ihre erste Ernte. In Magdeburg schrieb jemand an eine Hauswand: „Atomverbrannt durch Freundesland.“

In den ersten Maitagen kam Regen und mit ihm stieg die Belastung mit radioaktivem Jod in Milch deutlich an. Für Kleinkinder galten damals Werte bis 200 Becquerel (Bq) pro Liter als unbedenklich. (1 Becquerel=1 Kernzerfall pro Sekunde). Das Staatliche Amt für Strahlenschutz maß am 3. Mai 1986 deutlich höhere Werte - so in Kolkwitz bei Cottbus bis zu 995 Becquerel. Kühe hatten belastetes Gras gefressen. In der Region Magdeburg schossen die Werte auf Wiesen auf über 70 000 Becquerel pro Kilo Gras. Bei der Milch lagen die Werte zum Glück unter 100. Dennoch: „Dies hätte zu Vorsorgemaßnahmen führen müssen“, schrieb der Magdeburger Direktor des Hygieneinstituts Bernd Thriene in einer Rückschau nach der Wende. Doch Warnhinweise „durften nicht veröffentlicht werden“.

Im Dezember 1986 veranstaltete die Volksstimme einen Medizinischen Sonntag zum Thema Umweltschadstoffe. Leser fragten auch nach den Tschernobyl-Folgen. Der Beitrag stand schon auf dem Korrekturbogen, wurde dann aber wenige Stunden vor Druckbeginn gestrichen.

Jod zerfällt schnell. Cäsium nicht; jetzt nach 30 Jahren ist erst die Hälfte zerfallen und damit unschädlich. Ein bundesweites Messnetz ermittelt die Werte. Sachsen-Anhalts Landesumweltamt hat zwei Messstellen in Osterburg und Halle und nimmt landesweit Proben. Deutlich belastet wurde 1986 Südbayern. Das heutige Sachsen-Anhalt kam glimpflich davon. Mit einer Ausnahme: Eine kleine Region um Schollene bei Havelberg erwischte es etwas stärker, da damals eine kleine aber dicke Wolke aufzog und es heftig prasselte.

Mit dem Regen kamen die Nuklide. Bis heute sind Pilze aus dieser Region mit radioaktivem Cäsium-137 belastet. 1998 waren es 1280 Becquerel pro Kilo. 2014 lag der Gehalt noch leicht über dem EU-Grenzwert von 600 Becquerel. Die Pilze dürfen auch heute noch nicht in den Handel. Ein Essverbot gibt es aber nicht, zumal Sammler die Pilze nicht kiloweise verspeisen. Beobachtet wird auch der Cäsium-Gehalt im Klärschlamm. Am Klärwerk Gerwisch ist der Rückgang deutlich zu sehen: Von 41 Becquerel (1994) auf 1 Becquerel Anfang 2016.

Ganz anders sieht es in der Todeszone aus. In Tschernobyl und anderen Regionen werden heute noch mehr als 1,5 Millionen (!) Becquerel auf einem Quadratmeter Boden gemessen. Auch hier bereitet das Cäsium-137 die größten Sorgen. Eine internationale Kommission schätzt die Zahl der Todesopfer auf 4000. Bislang. Mit Tausenden weiterer Krebserkrankungen wird gerechnet. 2017 soll der Katastrophen-Reaktor für 2 Milliarden Euro einen neuen Sarkophag bekommen. Große Areale bleiben dennoch lange gesperrt. Experten schätzen, dass erst nach zehn Halbwertzeiten die Cäsium-Gefahr abgeklungen ist. Das wäre 2286.

Infografik: Atom-Reaktoren in Europa | Statista
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