Nach Schulmassaker von Erfurt (2002) und Winnenden (2009) erhalten Lehrgebäude in Sachsen-Anhalt Warnsysteme / Referenzobjekt ist die Sekundarschule Möser Amokalarm in der Schule - ohrenbetäubender Lärm soll Leben retten
Möser l "Hoffentlich brauchen wir sie nie", sagt Schulleiter Helmut Krüger und schaut hinter sich. Sie - das ist der kleine grüne Kasten hinter seinem Schreibtisch. Sie - das ist die Amokalarmanlage in der Sekundarschule Möser (Jerichower Land). Sie - hängt in jedem Klassenzimmer an der Wand. Seit Ende 2011 ist die Anlage mit der Polizei verbunden. Der Landkreis hat für die Installation mehrere 10 000 Euro gezahlt. Eine genaue Summe nennt er nicht. Sie - ist auch ein sensibles Thema.
Das Schulmassaker von Erfurt im April 2002 hat die Nation wachgerüttelt. Damals verübte erstmals in Deutschland ein ehemaliger Schüler ein Attentat in einem Lehrgebäude. Der 19-jährige Robert S. erschoss zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizisten und anschließend sich selbst. Ähnliches geschah im März 2009 in Winnenden. Dort tötete ein 17-Jähriger 15 Menschen und sich selbst. Der Vater des Jugendlichen war Sportschütze, die Waffe lag zuhause.
Seither wurden das Waffengesetz verschärft, die Polizeiausbildung erweitert und das Jugendschutzgesetz geändert. Nun reagiert auch das Jerichower Land und lässt auf eigenen Wunsch technisch in seinen Schulen nachrüsten. Die Amokalarmanlage in der Sekundarschule Möser ist die erste dieser Art in einem Lehrgebäude in Sachsen-Anhalt.
Grund für die Installation ist ein reines Gewissen. "Wir wollen uns, bei einem nicht auszuschließenden Fall, nicht selber Vorwürfe machen müssen", erklärt Kreisvorstand Bernd Girke auf Volksstimme-Nachfrage. Die Wahl fiel auf Möser, weil hier eine Sanierung der Schule bevorsteht. An alter Bausubstanz habe man besser die Systeme testen können.
Wird ein Alarm von einem Lehrer ausgelöst, ertönt mehrere Sekunden ein ohrenbetäubender Lärm. Dann heißt es für alle: Schutz suchen.
Schüler und Lehrer verbarrikadieren sich in den Räumen, öffnen niemandem die Tür, egal wer anklopft. Tische werden umgeworfen, Stühle beiseite gerückt, Kinder und Lehrer verstecken sich hinter den Möbeln. Und dann heißt es: warten.
Warten auf die Polizei und das Sondereinsatzkommando. Beide werden sofort alarmiert. Der Notruf setzt sich automatisch ab, ein Fehlalarm gilt als ausgeschlossen. "Klingelt bei uns das spezielle Telefon, gehen wir immer von einem Echtfall aus", erklärt Polizeisprecher Thomas Kriebitzsch.
Die anrückenden Einheiten könnten nicht mehr gestoppt werden. "Wir kommen sofort, egal ob uns ein Anrufer noch davon abhalten will", so Kriebitzsch weiter. "Die ersten Polizisten, die am Tatort eintreffen, gehen sofort in das Gebäude. Es wird nicht mehr auf die Spezialeinheit gewartet." Das sei der große Unterschied zur Vergangenheit. Das hätten die Erfahrungen aus Erfurt und Winnenden gelehrt.
Die Polizisten sind für den Ernstfall gewappnet. Sie trainieren regelmäßig in nicht genutzten Schulgebäuden und erhalten spezielle Seminare.
Schüler und Lehrer können dagegen nur hoffen. "Wir haben keine Möglichkeit, einen Amokalarm wie einen Feueralarm zu üben", sagt Schulleiter Krüger. "Manchmal befürchte ich, die Schüler könnten die Signale verwechseln, obwohl die Töne für Pause, Feuer und Amok sehr unterschiedlich sind."
Die Alarmanlage kann bei Gefahr schützen, hebt jedoch nicht automatisch das Sicherheitsgefühl der Lehrer. "Letzten Endes muss ich mit meinen Schülern durch die Situation", sagt Denise Reichenbach, Lehrerin für Deutsch und Englisch in Möser. "Die ersten Minuten sind allein meine. Ich muss damit klarkommen."
Kollegin Franziska Harms pflichtet bei: "Man fragt sich, was zu tun ist. Wird man es schaffen, diese Situation zu bewältigen?" Und Schulleiter Krüger meint: "Die Anlage gibt mir zwar innerlich etwas mehr Ruhe. Aber ich weiß, wenn wirklich was passiert, wird es jemanden erwischen."
Um das Wohl der Lehrer und Kinder kann sich die Polizei bei einem Amoklauf anfangs nicht kümmern. Das klingt hart, soll aber Leben retten. "Im Vordergrund steht für uns die Festnahme des Täters, damit dieser keine weitere Gefahr darstellt", erklärt Kriebitzsch.
"Bislang gab es bei uns noch keinen Amokalarm, weder einen echten noch einen vorgetäuschten", sagt Krüger und atmet tief durch. Und hoffentlich komme niemand auf diese dumme Idee. Selbst eine Alarmierung aus Spaß werde teure Folgen für den Witzbold haben. "Wir fahren immer sofort die gesamte Maschine hoch", berichtet Polizeisprecher Kriebitzsch. "Die Kosten zahlt der Verursacher. Und da kommt eine Menge Geld zusammen."
Das wissen auch Schüler, Lehrer und Eltern. Sie alle wurde über die Amokalarmanlage informiert. Auch Betriebe und Gemeindeverwaltungen hätten sich das System bereits angeschaut, berichtet Krüger.
Weitere Alarmanlagen sollen dieses Jahr in Sekundarschulen in Genthin, Gommern und Burg in Betrieb gehen. Das ist der Plan der Kreisverwaltung. Während der Sanierungen seien die Anlagen vorinstalliert worden, so Girke. Auch in Harzer Schulen werden die Systeme eingebaut. Seite 5